B. DIE FORSCHUNGSRESULTATE -
EINE HYPOTHESENGESCHICHTE

IV. Räter und Semiten

Eine Theorie, die in den achtziger Jahren einigen Wirbel erzeugte, war die von Linus Brunner aufgestellte Hypothese, die Räter seien ein semitisches Volk gewesen. (130) Brunners Behauptung fand in Privatgelehrtenkreisen (131) zwar Anklang, wurde aber von der Sprachwissenschaft zu Recht fast durchwegs abgelehnt.

Der Altphilologe Brunner beschäftigte sich bereits seit den sechziger Jahren mit semitischen Sprachen. 1969 publizierte er eine Arbeit zu den «gemeinsamen Wurzeln des semitischen und indogermanischen Wortschatzes». Sein Interesse für das Rätische schien sich erst später zu zeigen; erste Veröffentlichungen zum Thema «Rätisch und Semitisch» tauchten ab 1981 auf. Brunner meinte zu seiner vermeintlichen Entdeckung: «Es war eine grosse Überraschung, als ich feststellen musste, dass die rätischen Inschriften eindeutig eine semitische Sprache verraten, am nächsten verwandt mit den ostsemitischen Sprachen, dem Akkadischen (in Mesopotamien) und Arabischen. Es ist aber ein aussichtsloses Unterfangen, das Rätische allein mit Hebräisch erklären zu wollen, denn der grösste Teil des Wortschatzes und insbesondere die Grammatik sind ostsemitisch, am ehesten akkadisch.» (132) In seiner ersten diesbezüglichen Arbeit, erschienen in der Reihe «Epigraphic Society Occasional Publications» (ESOP) in San Diego, führte Brunner eine Reihe rätischer Wörter auf, die durch das Rätoromanische bewahrt wurden, und erklärte sie mit semitischen Wortgleichungen; ein Jahr später verfasste er für die gleiche Reihe einen Artikel, in dem er erstmals rätische Inschriften zu übersetzen versuchte. Kurze Zeit später erschien ein Beitrag Brunners in den Bündner Monatsblättern, dessen Titel die rätische Sprache bereits als «entziffert» betrachtete. (133) 1983 veröffentlichte das renommierte Schweizer Fachblatt «helvetia archaeologica» einen weiteren Aufsatz Brunners, in dem er die Inschrift von Schuls (s. A II.) zu entziffern versuchte. (134) Er kritisierte an den bisherigen Entzifferungsversuchen vor allem die Tendenz, dass man «nach der Schablone der indogermanischen Sprachen vorging: ‘XY hat dem Gott Z. diese Gabe gespendet.’» (135) In den rätischen Inschriften aber komme dieses Schema gar nicht vor, der Name des Spenders sei nirgends erwähnt. Den Gottesnamen hingegen fand er überall, und zwar in der Form «mein Gott XY»: «In den semitischen Sprachen spricht man einen Gott mit "mein Gott" an, um damit auszudrücken, dass der Gläubige sich ausschliesslich an diesen Gott wendet.» (136) Dadurch erklärte er Formen wie «Riti» oder «Reitia» aus dem Semitischen als «meine Göttin Ritu».

Dieselbe Inschrift aus Scuol deutete er dann auch noch in einem Artikel in den Bündner Monatsblättern. Im gleichen Aufsatz beschäftigte er sich wieder mit den sowieso problematischen Orts- und Flurnamen, auf die er einen grossen Teil seiner Forschungen abstützte. Auch die Gottheiten des rätischen Heidentums wusste Brunner aus semitischen Wortgleichungen abzuleiten (BM 1/2 1984).

Mit der Zeit regte sich auch erster Widerstand gegen Brunners Theorien. Vor allem Ernst Risch, der bereits 1983 in einem Artikel im Tages-Anzeiger gegen Brunner Stellung bezogen hatte, kritisierte dessen Versuche, das Rätische mit Hilfe des Semitischen zu deuten, in der Neubearbeitung seines Räter-Aufsatzes von 1984. Risch bemängelte zu Recht, dass Brunner bei seinen Etymologisierungsversuchen nicht nach den Regeln der internen Kombination vorgegangen war, d.h. dass er seine Resultate nicht aus den Inschriften und dem Zusammenhang, in dem sie stehen, gewonnen hat, sondern nach der veralteten etymologischen Methode, (137) die «von aussen her eine Übersetzung an die Inschriften heran» (138) trägt. Ausserdem sei Brunner von veralteten und überholten Lesungen ausgegangen und scheine neuere Literatur zum Thema nicht zu kennen. Brunner erwiderte die Kritik im letzten Abschnitt einer Publikation in der Zeitschrift «helvetia archaeologica» (Brunner 1985). Er wies darauf hin, dass gerade die Indogermanistik, deren Vertreter Risch ja war, ihre wichtigsten Resultate mit Hilfe der etymologischen Methode erreicht hatte; zudem behauptete er, seine Vorgehensweise entspräche sehr wohl derjenigen der internen Kombination - «wie könnte man anders ganze Inschriften übersetzen und die Grammatik gewinnen?» (139)

1986 stellte sich ein weiterer Gegner Brunners neben Risch, der Sprachwissenschafter Johannes Hubschmid: «Der Hauptfehler Brunners besteht darin, dass er nicht zunächst die (...) Schlussfolgerungen seiner Vorgänger anhand des schriftlichen Materials (und nicht des Semitischen) zu modifizieren oder zu widerlegen versucht. Sein Vorgehen ist daher unwissenschaftlich. Er arbeitet nur mit vagen Anklängen an den Wortschatz semitischer Sprachen. (140) (...) Bei aus dem Semitischen erklärten Substratwörtern des Rätoromanischen und benachbarter Sprachen, deren Sinn wir kennen, werden bisherige, naheliegendere Verknüpfungen mit anderem Sprachgut gar nicht erwähnt. Für gewisse ganz ungewöhnliche Bedeutungsentwicklungen, die er voraussetzen muss, gibt er keine Parallelen.» (141) Hubschmid gab aber zu, dass es vermutlich sprachliche Beziehungen des Indogermanischen zum Semitischen gegeben haben musste, «jedoch kaum im Sinne einer sehr alten Urverwandtschaft. Soweit die [von Brunner] angeführten Wortgleichungen zu Recht bestehen, handelt es sich eher um alte Entlehnungen aus einer protoindogermanischen Sprache in eine protosemitische oder umgekehrt.» (142) Solche Vermischungen nahm er für den Vorderen Orient an, den Raum, in dem sich die beiden Sprachstämme berührt hatten. Die vom Orient ausgegangene Verbreitung der Haustierzucht habe sicher ihr übriges dazu getan, solche Entlehnungen weiter zu streuen; einen urgeschichtlichen Hinweis auf eine Einwanderung semitischer Stämme in Oberitalien und Rätien sei allerdings nicht vorhanden. Am Schluss seiner Ausführungen gegen Brunner betonte Hubschmid noch einmal die Unwissenschaftlichkeit der Brunnerschen Vorgehensweise und hielt fest, die von Brunner gegebenen Erklärungen seien unhaltbar. (143)

Am 3. Dezember 1987 starb Brunner. Die Zeitschrift «helvetia archaeologica» veröffentlichte nach seinem Tod einen weiteren seiner Artikel, die bis zu diesem Datum längste Auflistung semitisch gedeuteter Ortsnamen. In einem Nachwort der Redaktion findet sich, neben der Nachricht von Brunners Tod, die Meinung der Archäologie zu Brunners These, deren vorsichtige Wortwahl eine unterschwellige Kritik heraushören lässt: «Die Diskussion ist in Gang gekommen. Das ist gut so, denn jede Wissenschaft muss herausgefordert werden, damit sie sich bemüht, der Wahrheit näher zu kommen. Der Archäologe kann vorerst nur mit Interesse die Argumente und Gegenargumente zur Kenntnis nehmen. Er, der sie vom Fachlichen her nicht zu beurteilen vermag, kann lediglich hoffen, dass die Sprachwissenschaft einen Schritt weiter kommt. Das eigene archäologische Quellenmaterial lässt so kühne Spekulationen selten zu. (...) Daher bedeutet die These von L. Brunner eine anregende Provokation für die weitere interdisziplinäre Forschung.» (144) Von zentraler Bedeutung scheint aber der letzte Satz des Nachwortes zu sein, wenn man sich den manchmal etwas ruppigen Stil der Auseinandersetzung zwischen Brunner und seinen Gegnern vor Augen führt: «Nur sachliche - nicht subjektiv polemische (145) - Auseinandersetzungen der kompetenten Spezialisten werden uns der Wahrheit näher bringen.» (146) Mit dem Tod Brunners war die Auseinandersetzung keineswegs aus der Welt geschafft. An die Stelle Brunners trat Alfred Toth, der zusammen mit Brunner eine Bündelung der gesamten Theorien zur Verwandtschaft des Rätischen mit dem Semitischen zusammengestellt und kurz vor dessen Tod herausgegeben hatte - das Buch «Die rätische Sprache - enträtselt».
 Der damalige Student Toth leistete darin eine gute Arbeit; seine kritische Darstellung der antiken Quellen zum Rätischen, die den ersten Teil des Buches ausmacht, ist eine willkommene Ergänzung bestehender Arbeiten. Brunner, der den zweiten Teil des Bandes besorgte, lieferte wenig Neues, vielmehr eine Zusammenfassung dessen, was er in seinen verschiedenen Artikeln bereits an anderer Stelle gesagt hatte; zusätzlich brachte er einen Abriss der rätischen Grammatik und Lexikologie und eine breit angelegte Bibliographie.

Diese erneute Publikation veranlasste schliesslich Andrea Schorta zu einer «kritischen Stellungnahme». Als Mitverfasser des «Rätischen Namenbuchs» lagen ihm vor allem die Ortsnamendeutungen Brunners schwer auf dem Magen: «Es sei eine Feststellung prinzipieller Art vorausgeschickt: Erfolgreiche Deutungsarbeit an Ortsnamen verlangt genaue Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten, der Ortsdialekte sowie Einsicht in möglichst alte urkundlich überlieferte Namenformen. (...) Diese Voraussetzungen waren bei Linus Brunner nur sehr teilweise erfüllt, so dass schon aus diesem Grund Fehldeutungen unvermeidlich waren. Wo Erklärungen aus der Werkstatt anderer wissenschaftlich ausgewiesener Etymologen über Bord geworfen werden, darf dies nicht ohne Begründung geschehen. Daran hat sich Brunner meist nicht gehalten.» (147) Schorta ging sogar soweit, Brunner das «Opfer einer eigentlichen Semitomanie» (148) zu nennen. Die unübersehbare Betonung von heiligen Orten in den Etymologien Brunners kommentierte Schorta mit den Worten: «(...) [man] kommt (...) zum grotesken Schluss, unser Land sei in der supponierten semitischen Periode von Kultstätten geradezu übersät gewesen. Damit ist wohl klar geworden, dass hier ein in die Irre führender Forschungsweg eingeschlagen worden ist.» (149)

Kurze Zeit später schrieb Toth eine «Kritische Stellungnahme» zu Andrea Schortas Buchbesprechung, in der er den verstorbenen Brunner zu verteidigen versuchte. Er wies - nicht ganz zu Unrecht - darauf hin, dass alle bis zu jenem Zeitpunkt erschienenen Meinungsäusserungen zu den Theorien Brunners sich auf eine Kritik der semitischen Ortsnamen-Etymologien beschränkten, dass sich hingegen noch keiner mit dem eigentlichen Kern der Brunnerschen Aussagen, mit den Übersetzungsversuchen der Inschriften, beschäftigt habe. Ausserdem wies er darauf hin, dass Brunner seine Ortsnamenforschungen nicht als Kritik am «Rätischen Namenbuch», sondern als dessen Ergänzung verstanden habe.

Die seriöse Forschung scheint sich tatsächlich bis heute nicht darum zu kümmern, die Theorien Brunners hieb- und stichfest zu widerlegen. Schumacher bedauert noch 1992, «dass diese Gedanken wenig Widerspruch hervorgerufen haben (...), zumal Brunner vor allem in archäologischen und landeskundlichen Zeitschriften publiziert hat und dort beträchtliches Aufsehen unter Laien, Heimatkundlern und Archäologen erregt hat.» (150)

 Aus der ganzen Diskussion um Brunners Theorien kann man wohl nur schliessen:

- Semitische Elemente sind aufgrund uralter protoindogermanischer Verwandtschaftsverhältnisse im Rätischen zwar denkbar, eine direkte Verwandtschaft besteht jedoch nicht.

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