B. DIE FORSCHUNGSRESULTATE -
EINE HYPOTHESENGESCHICHTE

V. Mediterran oder indoeuropäisch?

In diesem letzten Kapitel soll einer grundlegenden Frage nachgegangen werden: Waren die Räter Indogermanen, oder gehörten sie zu einer mediterranen Sprachgemeinschaft? Während die deutsche Indogermanistik seit  Beginn der Räterforschung eher dazu neigte, die Räter in die Reihe der Indogermanen zu stellen, entstand in diesem Jahrhundert die vor allem in Italien vertretene Ansicht, die Räter seien Angehörige eines mittelmeerischen Sprachstammes, der nicht indogermanisch ist. Auch die «jüngere» Sprachwissenschaft, allen voran Ernst Risch, ist von der Nicht-Indogermanizität der Räter überzeugt. Die vielen Entlehnungen, die im Rätischen aber zu vermuten sind, werden eine definitive Zuordnung wohl sehr erschweren.

Der eifrigste Verfechter des Indogermanentums der Räter war gewiss Karl Felix Wolff. In seinen (beinahe programmatischen) Schriften versuchte er immer wieder hartnäckig, die Räter von einer mediterranen Abstammung abzugrenzen. Dazu verwendete er mit Vorliebe die Erkenntnisse der Rassenforschung; es existiert von ihm ein gross angelegter Aufsatz, veröffentlicht in der Zeitschrift «Der Schlern» im Jahr 1959, der sich der «Rassenkunde zur Grundlegung der Räterforschung» bedient. Das Ziel, das er sich dort setzt, kennzeichnet alle seine Veröffentlichungen: «Zweck dieser Arbeit ist die Erörterung der Frage, welche europäischen Rassen den Grundstock der alpenländischen Bevölkerung bilden, insbesondere ob die Räter, die vorrömischen Bewohner des alpenländischen Kerngebietes, Mediterrane waren (wie die Schule von Carlo Battisti behauptet) oder ob sie als bodenständige Mitteleuropäer und (wie ich glaube) vorwiegend als Angehörige der Nordischen Rasse zu betrachten seien.» (151) Im folgenden Bericht entwickelte Wolff, basierend auf dem bereits damals umstrittenen «Längen-Breiten-Index» der Rassenforschung, seine Theorien und kam, unter Zuhilfenahme einer mendelistischen Analyse, zum Schluss, das (heutige) Volk des rätischen Alpengebietes bestehe «zu etwa 85% aus Angehörigen der Nordischen Rasse.» (152) Aus diesem Zahlenverhältnis folgerte er, die Indogermanen seien etwa um 2000 v. Chr. ins Alpengebiet eingedrungen und hätten sich dort niedergelassen; aus ihnen seien später die Ligurer, Räter, Veneter und Euganeer hervorgegangen.

In einer etwas älteren Arbeit hat sich Wolff konkret mit sprachwissenschaftlichen Problemen beschäftigt. Auch hier ging es ihm wieder darum, die Räter als (in seinen Augen wohl «überlegene» (153)) Indogermanen gegen die «teoria mediterrana», die er als «grosses glottologisches Lehrgebäude» bezeichnete, abzugrenzen. Wolff bezweifelte zwar nicht die Existenz einer «mediterranen Rasse» in den Alpen, wollte sie aber durch die eindringenden Indogermanen besiegt sehen: «Etwa um 2000 muss das ganze Randgebiet rings um den Alpenkörper schon von Indogermanen besetzt gewesen sein, die den Pflugbau mitbrachten und sich rasch vermehrten, so dass die alten Wildbeutersippen mediterraner und dinarischer Rasse bald in ihnen aufgingen oder sich in die Voralpen zurückzogen. Aber auch da folgte ihnen bald der indogermanische Bauer von allen Seiten nach, denn im Laufe des zweiten Jahrtausends wird das gesamte Bergland bäuerlich durchsiedelt, und die Sagen der Alpenbewohner zeigen uns heute noch das Nebeneinander von Bauern und ‘Wilden’(!), das natürlich mit dem verschwinden der Wilden innerhalb des Bauernvolkes endigen musste.» (154) Zum Beweise dieses Indogermanentums führte Wolff Ortsnamen, noch lebendige Sprachreste und mythologische Begriffe an (155), die er nach seiner Etymologie deutete, wobei er v. a. darauf achtete, die von Anhängern der mediterranen Theorie aufgestellten Gleichungen zu widerlegen.

Ein weiterer Hinweis auf die Indogermanizität der Räter waren für den Bündner Volkskundler Hercli Bertogg die Bronzestatuetten in Pferdchenform, die z. B. bei den Ausgrabungen von Sanzeno zum Vorschein gekommen waren. Er verweist auf eine Stelle bei dem Historiker F. Altheim: «Für die Indogermanen ist vornehmlich das Pferd zur Ausdrucksform religiöser Gehalte geworden. Die Mediterranen huldigten dem Stierkult.» (156)
Die Vertreter der in den dreissiger Jahren entstandenen mediterranen Theorie waren in erster Linie Battisti, Ribezzo und Pisani. Zu Carlo Battisti, der eigentlich ein Anhänger der Etruskertheorie war, muss vorausgeschickt werden, dass bei der Beschäftigung mit seinen Schriften aus den bereits erwähnten politischen Gründen (s. Kapitel B I. resp. Anm. 74) Vorsicht geboten ist. Battisti nahm an, im Neolithikum sei die älteste Besiedlung Südtirols durch vorindogermanische Stämme geschehen, also durch Menschen mediterranen Ursprungs. Diese vorindogermanische, unetruskische Sprachschicht habe sich im Rätischen, das er für das älteste Substrat hielt, und in der Toponomastik Südtirols erhalten; seltsamerweise bezeichnete aber Battisti gleichzeitig die Inschriften im Alphabet von Sanzeno (Bozen) und Magrè als nordetruskisch (im sprachlichen Sinne). Battisti unterliess es denn auch anzugeben, ob das Rätische bis zur Römerzeit tatsächlich noch in Gebrauch war. Als Sprache der Inschriften von Sanzeno (Bozen) und Magrè liess er es jedenfalls nicht gelten. (157)

Francesco Ribezzo unterstützte die Theorie Battistis. 1934 äusserte er die Meinung, Räter und Etrusker seien Abkömmlinge eines gemeinsamen mediterranen, präitalischen, nicht indogermanischen Substrates; dieses Substrat machte er aufgrund von vermuteten Sprachkontakten gar verantwortlich für die germanische Lautverschiebung, die er auf die Beeinflussung durch eine mediterrane Lautverschiebung zurückführte. (158)
 Vittore Pisani schliesslich schrieb 1935: «Se è lecito pronunciarsi sul carattere dëuna lingua basandosi sulle scarse testimonianze che ci restano del retico, noi potremo dire che questo è una lingua preindoeuropea cui alcune isoglosse riattaccano al sostrato preindoeuropeo del ligure e del veneto, altre allëetrusco.» (159) Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Rätischen und dem Etruskischen seien nicht das Resultat irgendeiner dialektalen Verbindung der beiden Sprachen, sondern seien entstanden aufgrund der Verwandtschaft der Völker im Mittelmeerraum, zu denen Pisani sowohl Räter als auch Etrusker zählte. Später definierte er das Rätische als «(...) una lingua epigrafica che aprioristicamente può esser intesa tanto come quella parlata nell secolo III-I a. Chr. solamente o prevalentemente dagli Etruschi immigrati in Val di Non e nel basso Bolzanino, quanto come quella generalmente usata in questa zona anche dai discendenti degli antichi preindoeuropei (...).» (160) Im Rätischen vorhandene indogermanische Elemente erklärte Pisani folgerichtig aus den Kontakten mit anderen im selben Raum ansässigen zweifelsfrei indogermanischen Völkern.

Im Zusammenhang mit der «teoria mediterranea» erwähnenswert ist auch die 1986 von Johannes Hubschmid geäusserte Vermutung eines «rätomediterranen» Volksstammes. Für die Zeit kurz vor der Eroberung Rätiens durch die Römer postulierte Hubschmid ein dreisprachiges Rätien, bewohnt von a) indogermanischen Rätovenetern (von Hubschmid auch «Parakelten» genannt), b) keltischen (ebenfalls indogermanischen) Galliern und c) «einem etruskoiden Volk, das wohl auf dem Meerweg, längs der Adria, nach Oberitalien und das östliche Rätien gekommen ist.» (161) In der Zeit vor der Besiedlung durch die Indogermanen aber haben Rätien nach Hubschmid Volksstämme bewohnt, die einen mediterranen Ursprung besessen haben und die er als «Rätomediterrane» bezeichnete. Diese Völker hatten aber keine einheitliche Sprache, «vielmehr hat man im Mittelmeergebiet verschiedene, miteinander nicht näher verwandte Sprachen anzunehmen, wie das Iberische (als Rest des Eurafrikanischen) und das Baskische mit iberischen Substratelementen, das mit dem Baskischen entfernt verwandte, aus dem Osten stammende Ligurische neben einem für die Alpen, Italien und die ganze Balkanhalbinsel charakteristischen Substrat, das vom Baskischen ganz zu trennende Etruskische mit Beziehungen zu altanatolischen (vorindogermanischen) Sprachen, und natürlich das im Vorderen Orient beheimatete Indogermanische und das Semitische mit dem Hamitischen, wozu das Altägyptische und die Berbersprachen in Nordafrika gehören.» (162)

Verbindungen dieser Sprachen untereinander und zum Rätomediterranen im Besonderen hielt Hubschmid aufgrund alter Wanderungsbewegungen für durchaus möglich. Beziehungen vermutete er hauptsächlich zum Ligurischen, Baskischen und zu «vorindogerm. Sprachen der Ostalpen sowie des südosteuropäischen und ostmediterranen Raumes - und des Kaukasus mit dem südlichen Randgebiet, wo das Urartäische überliefert ist.» (163) Anklänge an solche Sprachen im heutigen Rätoromanischen (164) führten Hubschmid dazu, für die vorrömische Zeit Rätiens eventuell sogar eine vierte Sprache anzunehmen - die Überreste der rätomediterranen Schicht.

 Aus diesem letzten Kapitel lassen sich die folgenden möglichen Schlüsse ziehen:

- Eine Indogermanizität des Rätischen kann bis anhin nicht nachgewiesen werden. Offensichtlich sind zwar starke indogermanische Einflüsse, nicht nur sprachlicher, sondern auch kultureller Natur, die aber genau so gut von indogermanischen Nachbarvölkern stammen können und keine Rückschlüsse auf die eigentliche Natur des Rätischen zulassen.

- In den Orts- und Flurnamen des Ostalpengebiets finden sich Überreste vorindogermanischer Sprachen. Von welcher Natur diese Sprache oder ihr Volk war, lässt sich vorläufig nicht eruieren.

- Aufgrund der Wanderbewegungen und Handelsbeziehungen zum Vorderen Orient sind Entlehnungen aus Mittelmeersprachen denkbar. Wie eng allerdings die Sprachbeziehungen im mediterranen Raum tatsächlich waren, lässt sich nicht entscheiden.

- Die von Hubschmid postulierte Drei- oder Viersprachigkeit des rätischen Ostalpenraumes weckt Zweifel an der Existenz eines ethnologisch eindeutig beschreibbaren rätischen Volkes.

WEITER

ZURÜCK ZUM INHALT