B. DIE FORSCHUNGSRESULTATE
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EINE HYPOTHESENGESCHICHTE
I. Räter und Etrusker
Vermutungen über
einen Zusammenhang zwischen Rätern und Etruskern gab es bereits in der
Antike. Zeugen dafür sind u.a. die Textstellen bei Titus Livius, Pompejus
Trogus und Plinius (s. o.). Während Livius sich darauf beschränkte,
den Rätern tuskischen Ursprung zu bescheinigen, wussten es Pompejus Trogus
und Plinius - der den ersteren als Quelle benutzt haben könnte - etwas
genauer: Sie gingen davon aus, dass die Räter die Nachfahren der Etrusker
gewesen sind, die - unter ihrem Führer Rätus, notabene - von den nach
Norditalien einbrechenden Galliern in die südlichen Alpen verdrängt
worden waren. Diese Behauptung wurde von der Rätologie später dankbar
aufgegriffen. Es liegt selbstverständlich nahe, die zwei unbekanntesten
Völker der italienischen Antike miteinander in Verbindung zu bringen, zumal
ja ihre Siedlungsgebiete sich geographisch recht nahe beieinander fanden. Das
Schwinden der etruskischen Macht in der Toskana geschah allem Anschein nach
ungefähr zur gleichen Zeit wie das Erstarken der rätischen Kultur
in den südlichen Alpentälern. Es verwundert also nicht, dass die Forschung
in den letzten 150 Jahren immer wieder versucht war, die Räter zu Etrusker-Abkömmlingen
zu machen. Die verschiedenen Abwandlungen des nordetruskischen Alphabets, in
denen die rätischen Inschriften gehalten sind, taten das ihrige dazu, diese
Ansicht zu bestärken.
Es steht ausser Zweifel, dass die Räter sich von der etruskischen
Kultur beeinflussen liessen. (62) Die Schrift und einige bereits dingfest
gemachte «Wortimporte» (63) sind ausreichende Beispiele
dafür. Dass hingegen von einer direkten Abstammung der Räter
von den Etruskern nicht die Rede sein kann, ist heute gewissermassen
Forschungskonsens. Dem war aber keineswegs immer so.
Der erste neuzeitliche «Rätologe», Conte Giovanelli,
vertrat die Ansicht, die Räter seien nicht etwa, wie es von Livius,
Pompejus Trogus und Plinius behauptet wurde, Nachkommen der Etrusker,
sondern gewissermassen deren «Vorfahren» gewesen. Über
die Herkunft der Etrusker wurde bereits damals gerätselt; viele
waren der Meinung, sie seien über das Meer aus Kleinasien nach
Italien gekommen, andere behaupteten, sie seien auf dem Landweg auf
die Apennin-Halbinsel gelangt. Ausgehend von dieser zweiten Ansicht
deutete Giovanelli die Räter als ein auf der Wanderung nach Süden
in den Alpen zurückgebliebener Etruskerstamm, der sich - bis auf
das Schriftsystem - unabhängig von den in der Toskana sich ausbreitenden
verwandten Stämmen entwickelte. Diese Theorie der Nordeinwanderung
wurde später von den meisten anderen Forschern bezweifelt; man
hielt die Behauptungen des Pompejus Trogus und des Plinius für
glaubwürdiger. Schumacher lobt aber Giovanelli dafür, im Gegensatz
zu vielen «etruskophilen» Räterforschern der späteren
Jahre die Fähigkeit besessen zu haben, die Angaben antiker Autoren
relativieren zu können. (64) Camenisch beispielsweise schrieb noch
1921, die Textstellen bei Livius und Plinius seien eine ausreichende
Erklärung für die Vorgänge während der damaligen
etruskischen Stammesverschiebung. (65) Die Nordeinwanderungstheorie
wurde zuletzt von Ferruccio Bravi (La Lingua dei Reti, Bozen 1981) vertreten,
allerdings in weitestgehender Ignoranz der jüngeren Erkenntnisse
der Etruskologie.
Auch der grosse Altertumswissenschafter Theodor Mommsen beschäftigte
sich mit dem Rätischen. 1853 verfasste er ein Werk über die
nordetruskischen Alphabete, in dem er alle bis anhin bekannten Inschriften
aus dem Alpengebiet versammelte. Mommsen hielt es für selbstverständlich,
dass die Alpenbewohner die Schrift von den ihnen benachbarten zivilisierteren
Etruskern übernommen hatten, warnte aber ausdrücklich davor,
deswegen die Alpenvölker als Verwandte der Etrusker zu betrachten.
(66) Den Angaben des Livius wollte er nicht widersprechen - «aber
abgemacht ist die Frage durch die Auffindung einer dem tuskischen Alphabet
verwandten rätischen Schrift keineswegs, so lange nicht die Identität
der Idiome dargethan ist.» (67) An anderer Stelle meinte Mommsen
denn auch, es spreche nichts gegen die «Fluchttheorie»,
die die drei oben genannten antiken Autoren vertreten. (68)
Nachdem Corssen im Jahr 1874 die rätischen Inschriften in sein
Werk «Die Sprache der Etrusker», worin er die Tusci den
Italikern zuordnete, aufgenommen hatte und somit zu verstehen gab, es
handle sich seiner Meinung nach beim Rätischen um ein italisch-etruskisches
Idiom, versuchte Giovanni Oberziner einige Jahre später, die Resultate
Corssens und anderer Sprachwissenschafter in einer neuen Theorie mit
den Resultaten der archäologischen Forschung zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Oberziner plädierte für eine ethnische Verwandtschaft der
Räter, Etrusker, Euganeer und Umbrer; sie alle seien ursprünglich
Italiker gewesen, die in der Bronzezeit die Ibero-Ligurer aus Italien
und den südlichen Alpen vertrieben hätten. (69) Nach der Landnahme
sei dann die Differenzierung in die verschiedenen Völkerschaften
erfolgt; (70) die Etrusker behielten dabei eine Vormachtstellung, die
sie erst durch den Ansturm der Gallier und die Expansion Roms verloren.
(71) Von den Räter schrieb Oberziner, sie seien das Resultat ethnischer
Überlappungen gewesen und hätten in mehreren, voneinander
unabhängigen Gemeinschaften gelebt, vereinigt nur im Kampf gegen
auswärtige Feinde. (72) Die Äusserungen Oberziners, wie überhaupt
viele vor der Loslösung Südtirols von Österreich erschienene
Publikationen italienischer Forscher, müssen mit Vorbehalt aufgenommen
werden; die Verwandtschaft der Räter und Etrusker wurde darin oft
nachhaltig betont, meist auf dem Hintergrund irredentistischer und nationalistischer
Strömungen. (73) Die Politiker in Rom und im Trentino wurden nicht
müde, die enge Verbindung der Einwohner Tirols mit Italien zu reklamieren
- also mussten die Räter als Tiroler Urbevölkerung mit den
Etruskern und dem mediterranen Raum überhaupt in Verbindung gebracht
werden. Viele italienische Sprachwissenschafter und Archäologen
(z. B. Pia Laviosa-Zambotti) liessen sich durch diese politisch motivierten
Bemühungen in ihrer Arbeit beeinflussen. (74)
Etwas skeptisch, aber doch nicht ablehnend stand Pauli (Die Inschriften
nordetruskischen Alphabets, 1885) der «Etruskoizität»
der rätischen Inschriften gegenüber. Die Texte im Alphabet
von Sondrio hielt er für etruskisch; bei den Inschriften im Alphabet
von Sanzeno (Bozen) allerdings ging Pauli von einem «mundartlich
gefärbten Etruskisch» aus oder erkannte zumindest wiederholt
«nichts Unetruskisches». (75) Sich dem Zwang der von ihm
behaupteten «Tatsachen» beugend, erklärte er trotz
seines bis zu diesem Zeitpunkt gehegten Zweifels Rätien für
etruskisch. (76) Zustimmung erhielt Pauli, der von seiner These auch
später nur geringfügig abwich, natürlich aus Italien;
vornehmlich Oswald Menghin (in einer Publikation aus dem Jahr 1914)
schloss sich seiner Meinung an und wollte grosse Teile Südtirols
bis zur römischen Eroberung als etruskisches Gebiet verstanden
wissen.
Der Verfasser der PID, Joshua Whatmough, war ein eindeutiger Gegner
der Etruskerhypothesen. Seine Untersuchungen zu den Ausgrabungen von
Magrè (veröffentlicht 1923) führten ihn zum Schluss,
die Räter seien eine Art unter etruskischen Einfluss geratene Urbevölkerung
gewesen. (77) Er erklärte das mit zwei Beobachtungen, erstens mit
dem bei etruskischen Inschriften unüblichen Vokalreichtum der rätischen
Inschriften, und zweitens mit dem häufigen Vorkommen italischer,
illyrischer und keltischer Wurzeln und Formative im Namensystem der
Inschriften von Magrè.
Bei Robert von Planta (1929) finden wir eine recht differenzierte Betrachtungsweise
des Räterproblems. Von Planta wehrte sich dagegen, die Räter
den Etruskern beizustellen, brachte aber auch Argumente für eine
Verwandtschaft der beiden Völker vor. In einer Inschrift von Sondrio
(ESIAL LEPALIAL) sah er «geradewegs den etruskischen ÇGenitivë
auf -al»; (78) bei den Inschriften von Magrè dachte er
«an eine südrätisch-etruskische Mischsprache, bei einigen
Stücken vielleicht direkt an Etruskisch»; (79) ausserdem
verglich er den auf einer Bozener Inschrift gefundenen mutmasslichen
rätischen Personennamen PERISNATE mit dem von Pauli postulierten
etruskischen Namen PERISNEI. (80) Für Planta war es jedenfalls
klar, dass «an vielen Orten des südrätischen Gebiets
Etrusker in kleineren Gruppen, vielleicht sogar in geschlossenen Ansiedlungen»
(81) sassen.
Eine völlig neue Art und Weise, die Etrusker mit den Rätern
in Verbindung zu bringen, findet sich in den Publikationen Paul Kretschmers
(ab 1932). Er ging davon aus, das Rätische und das Etruskische
(sowie das Tyrrhenische und das Pelasgische) seien nicht indogermanische
Sprachen gewesen, sondern Abkömmlinge eines rätotyrrhenischen
Sprachstammes, der wiederum auf ein Protoindogermanisch zurückgehe,
aus dem sich parallel das Urindogermanische mit seinen späteren
indogermanischen Einzelsprachen entwickelt habe. Das Rätische der
Inschriften steht nach Kretschmer bereits an der Schwelle der Indogermanisierung
und weist dementsprechend viele aus indogermanischen Nachbarsprachen
übernommene Züge auf. Erstes Ziel der Hypothese Kretschmers
ist es, widersprüchliche Theorien über die Herkunft des Etruskischen
auf einen Nenner zu bringen - einerseits die Behauptung, die Etrusker
seien aus Kleinasien nach Italien gelangt, anderseits die These, sie
seien in Italien autochthon gewesen. (82) Um diese Absicht zu erreichen,
postulierte Kretschmer die Existenz eines Volks der Rasennen, ein in
Italien uransässiges Volk, das mit den später eingewanderten
Etruskern eng verwandt gewesen sein soll. (83) Die Sprache dieser Rasennen
setzte er mit der Sprache der Räter gleich. (84)
Eine wiederum «konservative» Ansicht, in erster Linie gegen
Whatmough gerichtet, vertrat Rudolf Thurneysen (1933). Er weigerte sich,
dessen Behauptung, die Räter seien ein Konglomerat aus keltischen,
illyrischen und etruskischen Einflüssen, anzuerkennen, und setzte
sich von neuem dafür ein, das Rätische als etruskischen Dialekt
zu betrachten. (85) Er verwies vor allem auf die Inschriften PID 227
und 228, in denen möglicherweise die rätische Variante des
etruskischen «zinace» vorkommt; ausserdem sah er wie Planta
in rätisch «-al» ein etruskisches Suffix. Thurneysen
erkannte auch das von Whatmough vermutete Westindogermanentum der Räter
nicht an.
Gerade solche Erkenntnisse wie die bei Thurneysen genannten wollte der
Verfasser des in der Zeitschrift «Glotta» publizierten «Literaturbericht
1930-1933» zu den italischen Sprachen, Emil Vetter, in seinen
Schriften nicht akzeptieren. Sie verlieren seiner Meinung nach bei genauerer
Betrachtung stark an Überzeugungskraft. Vetter war ausserdem der
Meinung, die dialektalen Unterschiede zwischen den Inschriften im Alphabet
von Magrè und denjenigen im Alphabet von Sondrio (Val Camonica
etc.) seien zu gross, um beide dem Oberbegriff «Rätisch»
zuordnen zu können. (86)
Johannes Hubschmied, einer der bekanntesten Schweizer Sprachwissenschafter,
beschäftigte sich ebenfalls mit dem Räterproblem. In seinem
1948 im Bündner Monatsblatt erschienenen Aufsatz «Alte Ortsnamen
Graubündens» entpuppte er sich als eindeutiger Gegner der
Etruskertheorien. Er definierte das Rätische als «eine vom
Etruskischen unberührte, nicht keltische Sprache von Stämmen,
die zur Römerzeit das Gebiet des heutigen Kantons Graubünden
und benachbarte Gebiete, nämlich die Ostalpen, bewohnten.»
(87) Das Rätische war für ihn ausserdem eine indogermanische
Sprache, die sich lautlich als dem Lateinischen, Griechischen und Slawischen
verwandt erweisen soll. (88) Seine Abneigung gegenüber der Behauptung,
die Räter seien etruskischer Abstammung, begründete er mit
seiner und Plantas Ortsnamenforschung: «Von keinem Ortsnamen Graubündens
lässt sich Zusammenhang mit etruskischem Sprachgut wahrscheinlich
machen.» (89)
Der ganz in der italienischen Forschungstradition stehende Giovan Battista
Pellegrini veröffentlichte in den 50er Jahren mehrere Arbeiten
zur rätischen Sprache, er behandelte unter anderem die 1947 gefundenen
Kleinbronzen von Sanzeno, deren Inschriften er zu deuten versuchte,
und die Inschrift auf dem Gürtelblech von Lothen. (90) Grundsätzlich
unterstützte Pellegrini die Theorie, das Rätische sei eine
nordetruskische Sprache. Auch er erkannte in den rätischen Wortformen
tinace resp. zinace (IR 14) und tinac (IR 23) (91) dasselbe etruskische
«zinace», das auch andere vor ihm bereits in den rätischen
Inschriften von Magrè (PID 227, 228, 231) erkannt hatten. Die
meisten anderen Bestandteile der Inschriften von Sanzeno erklärte
Pellegrini, in der Annahme, es handle sich bei den Kleinbronzen um Votivgaben,
als Namensformen der Spender und der beschenkten Gottheiten. Er schloss
dabei allerdings nicht aus, dass «la lingua delle iscrizioni possa
contenere elementi indeuropei (illirici, venetici, celtici).»
(92) Ein weiterer Hinweis auf die Etruskoizität der rätischen
Inschriften war für Pellegrini das Fehlen des Graphems «o»
in eben denselben. Er vermutete, das «o» sei, wie im Etruskischen,
zu «u» geworden. (93) Behielt Pellegrini seine Ansichten
vorerst noch bei, beispielsweise in seiner mit Carlo Sebesta verfassten
Publikation der Hirschhorninschriften von den Montesei di Serso, (94)
wurde er im Laufe der Jahre vorsichtiger und hielt schliesslich im Jahr
1969 sogar fest: «Eë vero che si è cercato di ritrovare
riscontri etruschi più o meno convincenti, ma essi si rivelano
in realtà, tranne in pochissimi casi, assolutamente malfidi ed
ipotetici.» (95)
1959 publizierte Simonett seinen Fund von Raschlinas im Bündner
Monatsblatt. Erste Reaktionen erschienen noch im gleichen Jahr. Annemarie
Dilger-Fischer wurde durch den Fund Simonetts veranlasst, die Existenz
von Etrusker-Nachkömmlingen sogar für Graubünden selbst
zu vermuten: «So ist auch die Auffindung eines etruskischen [diese
Behauptung ist nicht erwiesen!] Grabsteines im Bereich Graubündens
kein blosser Zufall, sondern die Bestätigung eines ethnologischen
Vorganges, der für die Etrusker schicksalsbedingt war: Sie fanden
in den Hochtälern Graubündens die bleibende Stätte für
ihren Lebens- und Wirkungsbereich.» (96) Ins gleiche Horn stiess
zwei Jahre später auch Giusep Capaul in seinem Aufsatz «Ils
Rets». (97) Er wiederholte dabei recht genau die Ansichten, die
bereits bei den antiken Schriftstellern Livius, Pompejus Trogus und
Plinius vertreten wurden, und durchsetzte sie mit seiner eigenen Meinung
als Laie. (98)
1962 publizierte der österreichische Ortsnamenforscher Hermann
Ölberg seine Arbeit über das vorrömische Ortsnamengut
Nordtirols. In der Geschichte dieses Forschungszweiges waren in Tirol
bereits verschiedene Meinungen zum Ursprung der Ortsbezeichnungen geäussert
worden; im 19. Jh. hatte Ludwig Steub erfolglos versucht, sie mit Hilfe
des Etruskischen zu deuten; später führte der Panillyrismus
des Innsbrucker Sprachwissenschafters Friedrich Stolz im speziellen
und der österreichischen Forschung im allgemeinen zu einer eindeutigen
Überbetonung der illyrischen Elemente in den Ortsnamen. Ölberg
gelang es, sich von diesen Strömungen zu lösen und neue Resultate
zu erreichen. Er vermutete in seinen Schriften indogermanischen Ursprung
der Siedlungs- und Flurbezeichnungen, wobei die Namen seiner Meinung
nach aus mindestens zwei lokalen Kleinsprachen und zu einem gewissen
Teil auch aus dem Keltischen stammen. (99) Bezüglich der Räter
in Tirol unterschied Ölberg zwischen einem «Räter»
genannten Volk, dem er etruskischen Ursprung durchaus zubilligte, und
den tatsächlichen Ureinwohnern des ostalpinen Raums, die die Urheber
der von ihm erforschten Ortsnamen gewesen sein sollen und für die
er diese etruskische Herkunft als nicht erwiesen ansah. (100) Er schlug
in einer Publikation aus dem Jahr 1971 sogar vor, diesen Tiroler Volksstamm
nicht zu den sogenannten Rätern zu zählen, sondern sie viel
mehr «Breuni» und ihre Sprache «breonisch» zu
nennen, in Einklang mit den Schriftstellern der Antike, die im Gebiet
des heutigen Nordtirol ein Volk der Breonen ansässig wussten. (101)
Ein sehr kritischer und skeptischer Beitrag zur Räterforschung
stammt von Ernst Risch. Risch, renommierter Sprachwissenschafter an
der Universität Zürich, war kein eigentlicher Fachmann in
Räterfragen; trotzdem liess er es sich nicht nehmen, den Stand
der wissenschaftlichen Arbeit zu Beginn der 70er Jahre schonungslos
zu beleuchten. Seine Statements sind von starkem Pessimismus geprägt;
er liess keine Zweifel daran offen, dass er eine Lösung des Räterproblems
in nächster Zukunft nicht für möglich hielt. Nicht nur
stufte Risch den Umfang und die Aussagekraft der Inschriften als ungenügend
ein, nein, auch die Resultate der Namenforschung wollte er ihrer spekulativen
Natur wegen nicht anerkennen (s. Kapitel A II. und A III.). In seinem
Artikel «Die Räter als sprachliches Problem», erschienen
zuerst 1970 im Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Ur-
und Frühgeschichte, dann 1971 mit aufgenommen in Band 10 der Schriftenreihe
des Rätischen Museums, schliesslich, neubearbeitet, 1984 in Band
28 derselben Reihe publiziert (mit einigen aktuellen Ergänzungen),
befasste Risch sich auch mit der sprachlichen Verwandtschaft des Rätischen
mit dem Etruskischen. Einige Elemente der rätischen Sprache, die
er im übrigen für sicher nicht indogermanisch hielt, «erinnern»
ihn ans Etruskische, was für Risch aber nicht heissen muss, dass
«sie etruskisch ist. Dafür sind die Unterschiede zu gross.
Verschiedene Endungen des Rätischen fehlen dem Etruskischen, von
den unbekannten Wörtern nicht zu sprechen. (...) Nach dem, was
man mit einiger Sicherheit sagen kann, sieht es auch keineswegs so aus,
als ob das Rätische aus dem Etruskischen entstanden wäre.
(...) [Man wird] am besten annehmen, dass sie sich aus einer gemeinsamen
Grundsprache entwickelt haben.» (102) Wie Whatmough erkannte auch
Risch im Vokalreichtum der rätischen Sprache ein Argument gegen
ihre mutmassliche Etruskoizität. Was das Verbreitungsgebiet des
Rätischen anbelangt, sah Risch dessen Zentrum vor allem entlang
der Brennerroute gelegen; für die Bündner Alpen hingegen bemass
er - in Anbetracht der archäologischen Situation - die Wahrscheinlichkeit,
zum rätischen Sprachgebiet gehört zu haben, als äusserst
gering. (103) Im grossen und ganzen könnte man die Äusserungen
Rischs als durchaus vage bezeichnen; doch gerade diese Vorsicht in der
Beurteilung der vorhandenen Tatsachen ist ihm positiv anzurechnen. Die
wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre haben seine
pessimistischen Ansichten keineswegs entkräften können.
Ein in der Räterfrage ebenso vorsichtiger Forscher wie Risch war
Aldo Luigi Prosdocimi. Mitte der 70er Jahre definierte er das Rätische
als die Sprache der vorrömischen norditalienischen Inschriften,
die nicht lepontisch, nicht venetisch und nicht kamunisch sind und nicht
im Alphabet von Sondrio (dem der sog. «westrätischen»
Inschriften) verfasst worden sind. Prosdocimi hielt dialektale Unterschiede
auch innerhalb einer durch ein Alphabet definierten Inschriftengruppe
für möglich; anderseits vermutete er, dass auch Inschriften,
die in unterschiedlichen Alphabeten geschrieben worden sind, dem gleichen
Dialekt angehören können. Was die Beziehungen des Rätischen
zum Etruskischen angeht, deckten sich seine Ansichten mit denen Rischs.
Prosdocimi mutmasste allerdings, der unschwer festzustellende «etruskoide
Beigeschmack» des Rätischen gehe vielleicht auch auf die
gemeinsame Nicht-Indogermanizität der beiden Sprachen zurück.
Auch den Einfluss durch simplen Sprachkontakt solle man nicht unterschätzen;
er könne sich unter Umständen nicht nur auf Götternamen
oder ähnliche kulturelle Phänomene beschränken, sondern
sich auch auf Syntax und Grammatik erstrecken. (104)
So verschiedenartig
die Resultate der Forschung hinsichtlich der rätisch-etruskischen Verwandtschaftsbeziehungen
auch sein mögen - es lassen sich doch einige Erkenntnisse heraussieben,
die am Schluss dieses Kapitels als Fazit stehen mögen:
- Eine enge
Verwandtschaft zwischen der rätischen und der etruskischen Sprache scheint
nicht vorhanden zu sein. Weder stammt das Rätische direkt vom Etruskischen
ab, noch lässt es sich erweisen, dass das Etruskische und das Rätische
die gleiche Ursprache besitzen (wiewohl dies durchaus im Bereich des Möglichen
liegt). Die ganz klar vorhandenen Ähnlichkeiten der beiden Sprachen müssen
wohl vorläufig auf nachbarliche Sprachkontakte zurückgeführt
werden. Die kulturelle Überlegenheit der Etrusker hat nicht nur zur Übernahme
(und späteren Abwandlung) ihres Schriftsystems, sondern auch zu religiösen
Parallelen geführt, die sich in den Weiheformeln der rätischen Inschriften
niedergeschlagen haben.Ein Beitrag zur Klärung der Etruskerfrage lässt
sich aus dem Rätischen bis anhin ebenfalls nicht gewinnen.
- Die Frage
des Indogermanentums der Räter lässt sich durch die Bezüge zu
den Etruskern nicht erhellen. Es bleibt prinzipiell fraglich, ob das Volk der
Räter überhaupt in ein Schema «indogermanisch - nicht indogermanisch»
eingefügt werden kann. Die ohne Zweifel vorhandenen ethnischen Überlappungen
in den Ostalpen in vorrömischer Zeit erschweren eine solche Einteilung
ungemein. Zu prüfen wäre die Frage, ob die rätische Sprache nicht
vielmehr ein Konglomerat aus den verschiedenen sie umgebenden Einflüssen
darstellt, seien sie nun aus indogermanischen, vorindogermanischen oder nichtindogermanischen
Sprachen herstammend.
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