B. DIE FORSCHUNGSRESULTATE -
EINE HYPOTHESENGESCHICHTE

II. Räter und Kelten

In der Geschichte der Räterforschung stand die Frage, ob die Räter Kelten seien, wohl zurecht nie ernsthaft zur Diskussion. Es ist hingegen von nicht geringem Interesse, auf welche Art und Weise und wie stark die Kelten die Räter beeinflusst haben. Das rätische Gebiet grenzte auf mehreren Seiten an keltisches; im Norden lebten die Vindeliker, im Westen die Helvetier, im Südwesten die Lepontier, nach ihrem Einbruch in Oberitalien auch die Gallier - alles keltische Stämme. Gerade für Graubünden stellt sich die Frage der keltischen Beeinflussung in besonderem Masse, wurden doch hier verschiedentlich Überreste keltischer Kultur festgestellt, man denke nur an die Grabstele von Raschlinas oder die Schnabelkanne von Castaneda, beide mit lepontischen Inschriften versehen; nicht zu vergessen auch die keltischen Überreste im Ortsnamengut, wie sie von Robert von Planta, Andrea Schorta und anderen konstatiert wurden. Ausserdem geht es hier auch um die Frage eines möglichen Indogermanentums der Räter: Stammen die indogermanischen Merkmale, die das Rätische in sich zu tragen scheint, vom Kontakt mit den sicherlich indogermanischen Kelten her, oder ist die rätische Sprache per se indogermanischen Ursprungs? Es sei vorweggenommen, dass selbstverständlich auch hierauf noch keine sichere Antwort vorhanden ist, denn obwohl die keltischen Sprachen uns verhältnissmässig gut bekannt sind, fehlen leider die Vergleichsmöglichkeiten auf rätischer Seite.

Wie in Kapitel A I. erwähnt, gibt es schon in der antiken Literatur eine Stelle, die auf eine Beziehung zwischen Rätern und Kelten hinweist; es ist Zosimos, der die Behauptung aufgestellt hat, die Räter hätten zu den keltischen Legionen gezählt - was aber auch heissen kann, sie hätten in diesen Legionen gedient, und damit ist seine Äusserung bereits relativiert. Alfred Toth weist noch auf eine zweite falsch verstandene antike Quelle hin: Pomponius Mela hat uns in seinem geographischen Werk «De chorographia» (ca. 43 n. Chr.) den Bergnamen «Retico» überliefert, dem - und somit auch dem Namen der Räter - später von vielen Forschern (105) fälschlicherweise keltischer Ursprung zugesprochen wurde. (106)

In einem NZZ-Artikel vom 7. März 1914 mit dem Titel «Die alten Räter und ihre Sprache», berichtend über den Vortrag eines Herrn Dr. Täuber vor der Zürcher Antiquarischen Gesellschaft, wird der Spiess dann sogar umgedreht: Nicht nur soll das Rätische Wörter ins Lateinische geliefert haben, nein, auch die Kelten sollen Begriffe aus dem Rätischen übernommen haben, so z. B. das Wort «pala», aus dem im Latein und im Keltischen die Begriffe für «graben, Grabscheit, Spaten» (107) (nach Langenscheidt: pâla «Spaten», Etymologie ungeklärt) entstanden sein sollen. Täuber wollte diesen Stamm auch in franz. pelouse (Rasenfläche) entdecken und schloss daraus, «dass eine enge Verwandtschaft zwischen Keltischem und Rätischem bestanden haben müsse und doch keine Identität.» (108)

Robert von Planta (1929) ging nicht so weit wie Täuber und sprach den Rätern eine Verwandtschaft mit den Kelten ab, er hielt Ortsnamen wie Dardin (aus kelt. are dûnon «bei der Burg») oder Brianzols (Diminutivum von Brigantia) in Anbetracht anderer, völlig unkeltischer Ortsnamen (wie z. B. Plessur oder Padnal, mit anlautendem «p») für ungenügende Beweise einer solchen sprachlichen Verbindung. Die Kelten bildeten für ihn «offenbar nur eine vermögliche, kulturell überlegene Oberschicht» (109) im alten Rätien. In früheren Jahren scheint seine Meinung etwas anders gewesen zu sein; 1925 behauptete er in einem Vortrag, der erst 1938 in den Bündner Monatsblättern veröffentlicht wurde: «Die Beziehungen waren aber zweifellos viel engere als nachbarliche (...), so dass wir von Keltorätern oder Rätokelten sprechen können, wie von Keltoligurern [Lepontiern], Keltibérern usw. Das bedeutet, dass auch in die Sprache der Räter sehr viel Keltisches eindrang (...).» (110)

Hubschmied, der in seiner bereits erwähnten Definition des Rätischen deutlich darauf hingewiesen hat, dass die Sprache der Räter nicht mit dem Keltischen gleichzusetzen sei, hat weitere Wortgleichungen vorgebracht, die erkennen lassen, dass das Rätische Wörter aus dem Keltischen, speziell aus dem Gallischen, übernommen haben musste (s. Kapitel A III.). Insbesondere viele Flussnamen Graubündens (111) betrachtete er als aus dem Gallischen problemlos deutbar; ausserdem auch zahlreiche Siedlungs- und Geländenamen. Daraus schloss er ein hohes Alter der gallischen Präsenz in Graubünden. (112) Gemessen am Lautstand des Rätoromanischen kam er zum Schluss, das Gallische, und nicht etwa das Rätische, sei das massgebende Element in der rätoromanischen Sprachentwicklung gewesen. (113) Schliesslich glaubte er, ausgehend von der Beobachtung, dass gallische und wahrscheinlich rätische Flurnamen in denselben Tälern vermischt vorkommen, an ein gemeinsames, nachbarliches Leben von Rätern und Galliern in Graubünden, deren Sprachen er für «verwandt» hielt. (114)

Diese keltischen Elemente im Rätischen hat auch Pellegrini in seinem Überblick über die Forschungslage aus dem Jahr 1985 anerkannt, er spricht von «riscontri col celtico e col venetico» (115) und räumt die Existenz indogermanischer Bestandteile in der rätischen Sprache ein. Ein ähnlich keltenfreundliches Bild wie bei Hubschmied lässt sich allerdings in der neueren Forschung nicht mehr finden. Toth (1987), sicher ein wenig voreingenommen durch die Meinung seines damaligen «Lehrers» Brunner und dessen Semitentheorie, ist sogar der Meinung, die Räter seien mitunter deshalb mit den Kelten in Verbindung gebracht worden, weil sie bei den antiken Autoren oft mit ihren Nachbarn, den keltischen Vindelikern, in einem Zug genannt wurden. (116)

 Aus den angeführten Beobachtungen lassen sich die folgenden Punkte herausfiltern:

- Räter und Kelten verbindet allem Anschein nach keine nähere verwandtschaftliche Beziehung. Ähnlichkeiten ergeben sich hier, wie beim Etruskischen, aus arealem und kulturellem Kontakt.

- Die von Täuber geäusserte Behauptung, das Rätische habe Sprachgut ins Lateinische und Keltische exportiert, scheint aufgrund der kulturellen Überlegenheit der Römer und Kelten recht unwahrscheinlich.

- Insbesondere im Gebiet des heutigen Graubünden haben sich keltische und rätische Kultur vermischt, wenn auch nicht in dem von Hubschmied vermuteten Ausmass. Verschiedene Fluss- und Ortsnamen sind Zeugen dieser Vermischung. Da Hermann Ölberg für die rätischen Stammlande in Nordtirol und Oberitalien das Vorkommen keltischer Ortsnamen ebenfalls nachweist, ist eine ähnliche Situation, wenn auch in geringerer Ausprägung, auch für diese Gebiete anzunehmen.

- Auf eine Indogermanizität der rätischen Sprache lässt sich aufgrund der keltischen Einflüsse nicht schliessen; im Gegenteil, man muss unter Umständen damit rechnen, dass einige der indogermanischen Elemente im Rätischen nur aus dem Keltischen übernommen wurden und nicht aus dem Rätischen selbst stammen.

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