ZUR RÄTISCHEN SPRACHE III. Rätische Reste im Ortsnamengut GraubündensWenn die
Sprachwissenschaft in ihrem Bestreben, eine Sprache zu enträtseln,
aufgrund der Quellenlage nicht weiterkommt, sucht sie in vielen Fällen
die Möglichkeit, auf die Erkenntnisse der Ortsnamenforschung zurückzugreifen.
Eine solche Methode ist allerdings fragwürdig, denn die Resultate
der Ortsnamenforschung sind - gerade wenn man damit rechen muss, dass
die zu erhellenden Ortsbezeichnungen mit der Sprache in Beziehung stehen,
die die Sprachwissenschaft zu enträtseln versucht - zu einem grossen
Teil unsicher und spekulativ. Sprachwissenschaft und Namenforschung
bedingen sich gegenseitig. Der Glaube daran, dass in einem Fall wie
dem des Rätischen die Namenkunde zur Aufklärung der Forschungsprobleme
einen wichtigen Beitrag leisten kann, ist verfehlt; höchstens ist
es durch geschickte Vergleiche möglich, einzelne kleine Bereiche
der sprachwissenschaftlichen Arbeit zu unterstützen. In der Forschung
der letzten Jahrzehnte hat das Überbetonen der Interpretation von
Ortsnamen zu einigen Fehlleistungen geführt; besonders die Beiträge
von Linus Brunner haben das deutlich gezeigt. (56) Auch Ernst Risch
betont diesbezüglich: «Wenn nun die antiken Berichte über
das Rätische wenig aussagen, so fragt man sich, ob nicht als weitere
Quelle die Ortsnamen in Betracht kommen. Nun besteht kein Zweifel, dass
alte Ortsnamen und überhaupt Wörter, die aus der Sprache der
früheren Bewohner übernommen worden sind, also sog. Substratwörter,
gewisse Rückschlüsse auf deren Sprache erlauben. Aber ihr
Zeugniswert ist, wenn es sich um eine unbekannte Sprache handelt, recht
unsicher und nur in bestimmten Glücksfällen so, dass wir daraus
einigermassen sichere Folgerungen ziehen können. Dieser Glücksfall
liegt beim Rätischen nicht vor.» (57)
Mats Landfors
hat in seinem Artikel «Einige rätische Fischbenennungen -
Eine sprachliche Exkursion in die Vergangenheit» (61) weitere
bemerkenswerte Gleichungen aufgestellt:
Vorausgesetzt,
die oben genannten Gleichungen entbehren nicht jeglicher Wahrscheinlichkeit,
zeigen sie für das Gebiet Graubündens eine erstaunliche Vielfalt
von möglichen sprachlichen Einflüssen auf. Sowohl das Venetische,
Illyrische wie auch das keltische Gallische haben ihre Spuren in den
Orts- und Tiernamen hinterlassen; weitere Einflüsse (aus
Oberitalien, aus nichtindogermanischen Sprachen) sind ausserdem denkbar.
Aus all diesen Bündner Namen lässt sich aber nicht auf die
wahre Natur der rätischen Sprache, wie sie in Tirol oder Oberitalien
gesprochen wurde, schliessen. In einem Randgebiet, wie es Graubünden
für die Räter war, sind solche Vermischungen nicht weniger
als selbstverständlich. |