A. DIE QUELLEN
ZUR RÄTISCHEN SPRACHE

II. Die Inschriftenfunde

Im Jahr 1825 gelangte der Trentiner Conte Benedetto Giovanelli in den Besitz einer Situla, die ein Bauer in der Val di Cembra, nordöstlich von Trento, gefunden hatte. Die Situla trug eine Inschrift, die den bereits bekannten im etruskischen Alphabet gehaltenen Inschriften sehr ähnlich war, die aber auch so viele Unterschiede zu ihnen aufwies, dass man bei der auf der Situla entdeckten mindestens von einem etruskischen Dialekt ausgehen musste, der bis anhin noch nicht aufgetaucht war. Giovanelli war, ohne es vorerst zu ahnen, auf ein rätisches Sprachdenkmal gestossen. Fast zwanzig Jahre nach seinem Fund publizierte Giovanelli die Inschrift der Situla und schrieb eine Abhandlung darüber; ein Jahr später organisierte er weitere Ausgrabungen in Matrei am Brenner, eine Ortschaft in Nordtirol, wo er - Schumacher vermutet, aus Zufall (41) - tatsächlich auf eine neue Inschrift stiess (PID 188 (42)).

Nach den Funden von Giovanelli, die sozusagen am Anfang der auf Inschriften basierenden modernen Rätologie standen, kamen bis ans Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr schriftliche Überbleibsel zum Vorschein, die man zu einem grossen Teil den Rätern zuordnete, u.a. die Steinstele von Pfatten (1846; PID 196), Hirschhornvotive aus S. Briccio di Lavagno (43) (1883/84; PID 245&246), der Schöpflöffel von Siebeneich bei Bozen (44) (1888, PID 191) und die «Paletta di Padova» (1899, PID 244). (45) Die Funde veranlassten den Etruskologen Carl Pauli, die Inschriften nach den verschiedenen Alphabeten, in denen sie geschrieben waren, einzuteilen. Er unterschied in der Folge drei gesonderte Alphabete:
 
a) das Alphabet von Bozen (heute besser: von Sanzeno, mit den damals bekannten rätischen Inschriften),
b) das Alphabet von Sondrio (es umfasst die sog. «westrätischen» Inschriften, z. B. die kamunischen, die nicht zum eigentlichen Rätischen zu zählen sind),
c) das Alphabet von Lugano (beinhaltend die lepontischen Inschriften aus dem Tessin und aus Oberitalien),
d) das Alphabet von Este (mit venetischen Inschriften).

Die Einteilung von Pauli hat sich trotz ihres provisorischen Charakters bis heute halten können. Eine Ergänzung wurde notwendig, als man im Jahr 1912 begann, in Magrè bei Schio Ausgrabungen zu machen. Die Resultate wurden von Giuseppe Pellegrini 1918 publiziert. Im Grabungsfeld von Magrè fanden sich Hirschhornvotive in grosser Zahl, deren Beschriftung zwar dem venetischen Alphabet von Este ähnelte, mit ihm aber nicht identisch war. Zudem war auch die Sprache der Inschriften keinesfalls Venetisch - also nannte Pellegrini das Alphabet dieser Inschriften das «Alphabet von Magrè». Es gilt neben dem Alphabet von Sanzeno als zweites Alphabet mit rätischen (= osträtischen) Inschriften.

Eine neue Katalogisierung der als rätischen erkannten Inschriften geschah in den Jahren 1922 bis 1925 (publiziert 1933) durch Joshua Whatmough, der von seinem Lehrer, dem Sprachhistoriker Robert Conway, einen Teil dessen Projekt zur Publizierung der altitalischen Inschriftenfunde übernahm. (46) Sowohl die Inschriften, die Pauli bereits gesammelt hatte, als auch alle neueren Funde fanden Platz in ihrem Werk The Pre-Italic Dialects of Italy, kurz PID genannt. Diese Arbeit ist bis heute die wichtigste Quelle zu den Inschriften geblieben, sie muss aber durch Publikationen der Inschriften, die in der Nachkriegszeit gefunden wurden, ergänzt werden (eine Erneuerung des Corpus, wie Schumacher (47) sie vorschlägt, hat sich noch nicht durchsetzen können). Whatmough ordnete in seinen Publikationen die rätischen Inschriften in den von ihm «subalpin» genannten Alphabeten auch nach geographischen Gesichtspunkten; er unterschied:
 
a) eine nördliche Gruppe (Matrei bis Trentino; im Alphabet von Sanzeno),
b) eine südliche Gruppe (Brenta bis Gardasee; im Alphabet von Magrè) und
c) eine westliche Gruppe (westl. des Gardasees, Val Camonica; im Alphabet von Sondrio).

Während die archäologische Forschung in den Jahren des Zweiten Weltkriegs grösstenteils blockiert war, wurden nach Kriegsende wieder vermehrt Grabungen aufgenommen. 1947 fand man in Sanzeno bedeutende Bronzestatuetten mit Inschriften; 1951 wurde die Inschrift des Gürtels von Lohen publiziert; 1953 fand man weitere Hirschhornvotive am Tartscherbühel bei Mals. 1957 schliesslich wurden zum ersten Mal seit 1845 wieder Inschriften in Nordtirol entdeckt: die Felsinschriften von Steinberg. Sie waren an einem Höhleneingang angebracht worden - Mayr vermutet ein Quellheiligtum - und sind recht umfangreich. Ihre Lage im nordwestlichen Nordtirol ist bemerkenswert, finden sie sich doch damit ausserhalb der vermuteten Räter-Stammlande um Bozen und Trient. Die Annahme, dass Räter sich in dieser Gegend angesiedelt hatten, wurde noch bestärkt durch weitere Inschriftenfunde im nordtirolischen Volders (Funde von Himmelreich).

Die Ausgrabungen von 1960 bis heute brachten weitere Hirschhornvotive, Knochen mit Inschriften und Keramikfragmente zum Vorschein, unter anderem in den Montesei di Serso in der Valsugana, in der Valpolicella, im Vinschgau bei Schluderns, in Siebeneich, Santorso, Pfatten und Stufels bei Brixen. Dazu kamen Inschriften aus Tesero im Fleimstal und aus Fai della Paganella, nordwestlich von Trento. 1987 wurde in einer Privatsammlung die für verschollen gehaltene «Spada di Verona» wiedergefunden, eine mit rätischen Zeichen beschriftete Waffe.

Die inschriftlichen Zeugnisse zum Rätischen, die während all dieser Jahre in der Schweiz gefunden wurden, lassen sich an einer Hand abzählen. Erwähnenswert ist sicher die Schnabelkanne von Castaneda, die heute im Rätischen Museum in Chur steht. Zürcher berichtet in seiner Zusammenstellung der urgeschichtlichen Fundstellen Graubündens: «Die planmässigen Untersuchungen [durch Walo Burkart und Karl Keller-Tarnutzer] der Jahre 1928-1941 erbrachten 76 gesicherte Grabkomplexe mit einer grossen Zahl von Grabbeigaben. Besonders hervorzuheben ist dabei eine bronzene Schnabelkanne, in deren Mündung eine bisher weder eindeutig gelesene noch übersetzte Inschrift in einem wohl auf das Etruskische zurückgehenden Alphabet eingraviert ist.» (48) Mayr deutete die Inschrift auf der Schnabelkanne, die er als stark etruskisch beeinflusst bezeichnete, als westrätisch und hielt fest: «Die Inschrift von Castaneda (im Alphabet von Sondrio geschrieben) verläuft in Linksrichtung vom Rand des Gefässes über den Schnabel hin und ist gegen das Innere der Kanne gestellt.» (49) Für ihn ist der Fund von Castaneda ein Zeugnis für das Vordringen von Venetern in den Alpenraum. Die Kanne scheint aber ein Importstück zu sein. (50) Auf Crap Sogn Parcazi bei Trin wurde ein zum Aufhängen durchbohrtes Hirschhorn gefunden, das einem Hirschhornvotiv von Magrè zum verwechseln ähnlich sieht - nur leider trägt es keine Inschrift. Mit einer Inschrift versehen ist hingegen eine Stele, die 1958 von Christoph Simonett in einem Bauernhaus in Raschlinas bei Präz entdeckt wurde. Man hält sie allgemein für eine Grabstele, die wahrscheinlich zwei Namen trägt [SILLOKUI und KOISAI]. Simonett und Whatmough erklären die Inschrift, die im Alphabet von Lugano verfasst ist, als kelto-ligurisch (resp. lepontisch). (51) Eine weitere, schwer lesbare Inschrift stammt aus Scuol-Russonch; sie ist wahrscheinlich rätisch und lautet (nach Brunner) ATUKU RITI UNBIU (?). (52) Sie ist auf einem Hirschhorn angebracht, das sieben durchgebohrte Löcher aufweist - daher die Schwierigkeiten bei der Lesung. Am Rande erwähnenswert ist eine kurze Inschrift, die auf einem «Votivstein» in Wartau (SG) gefunden wurde; Brunner hält sie  - neben der Inschrift von Scuol - für die zweite rätische Inschrift, die in der Schweiz entdeckt wurde, und liest E(A)TU CHAT. (53) Hubschmid bezweifelt allerdings die Echtheit der beiden Inschriften von Scuol und Wartau. (54)

Die obigen Ausführungen lassen den Laien vermuten, es sei genügend Material vorhanden, um der rätischen Sprache auf die Schliche zu kommen. Qualität und Quantität der rätischen Inschriftenfunde, seien sie nun in Italien, in Österreich oder in der Schweiz gemacht worden, lassen aber - mit den Worten von Ernst Risch - nur einen pessimistischen Schluss zu: «Um mit ihren Methoden zu brauchbaren und einigermassen sichern Ergebnissen zu kommen, braucht die Sprachwissenschaft Texte von einem gewissen Umfang, die man ausserdem sowohl grammatisch als auch inhaltlich einigermassen verstehen sollte. Wenn solche Texte fehlen, können verschiedene Hilfsmittel an deren Stelle treten, wie etwa ein grammatischer Abriss oder umfangreichere Wortlisten. Fehlt auch das, dann sind bestenfalls nur sehr beschränkte Aussagen möglich. Im Falle des Rätischen fehlen uns leider die Voraussetzungen für bindende sprachwissenschaftliche Aussagen. Texte von einem gewissen Umfang sind keine vorhanden: was man hat, sind nur ganz kurze, vielfach unverständliche Inschriften (...). An wirklich brauchbaren antiken Angaben ist nichts vorhanden.» (55) 

WEITER

ZURÜCK ZUM INHALT