Wer war der heilige Wendelin?

AUS DER LITERATUR ZUSAMMENGETRAGEN VON JANO FELICE PAJAROLA

Liest man sich durch Legendenbücher, Heiligenviten und theologische Lexika, findet man zwar da und dort einiges über den heiligen Wendelin, aber trotzdem lassen sich das Leben und das Wesen der legendären iroschottischen Figur nur schwer greifen. In gewissen Punkten sind sich die Quellen einig, in anderen weniger. Grundsätzlich darf man wohl davon ausgehen, dass Wendelin - so, wie er in den Legenden überliefert wird - zum Erscheinungsbild des «heiligen Königs» passt, wie er in der Übergangszeit zwischen Römischem Reich und christlicher Kultur in Britannien des Öfteren vorkommt. Wie Régine Pernoud in ihrem Werk «Die Heiligen im Mittelalter - Frauen und Männer, die ein Jahrtausend prägten» (Gustav Lübbe Verlag, 1984) festhält, begegnet man den ersten dieser heiligen Könige in den kleinen sächsischen Königreichen Englands. Sie regierten, schreibt Pernoud, «unter dem Vorzeichen der Heiligkeit», und sie waren sich sicher, dass sie ihre Macht allein Gott verdankten und dementsprechend zu handeln hatten. Natürlich, Wendelin dürfte als Iroschotte Kelte gewesen sein, nicht ein Abkömmling der sächsischen Eindringlinge wie beispielsweise der heilige König Edmund. Der Topos des gottesfürchtigen Königs hat sich aber wohl auf den Legenden umrankten Königssohn Wendelin übertragen, auch wenn dieser, im Gegensatz zu Pernouds «heiligen Königen», als Abt letztlich auf die - zumindest weltliche - Macht verzichtet haben soll.

Aber alles der Reihe nach. Die traditionelle Legende, hier am Beispiel von «Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten» (Reclam Verlag, 1979), erzählt folgendes über Wendelin: «Der iroschottische Königssohn verzichtet auf den Thron, um Gott in Einsamkeit dienen zu können. Im Anschluss an eine Wallfahrt nach Rom beginnt er in der waldigen Wildnis von St. Wendel bei Trier ein Einsiedlerleben, übernimmt Hirtendienste bei einem Edelmann und treibt das Vieh bis zu einem sieben Meilen entfernten Berg, wo er gerne betet. Der als räuberisch geschilderte Herr der Herde kommt unversehens vorbei und ist höchst erzürnt, dass Wendelin, so weit entfernt, nun das zum Mahl bestimmte Tier nicht rechtzeitig werde bringen können. Doch als der Erboste in seinen Hof kommt, ist Wendelin bereits dort. Tief erschrocken, bittet der Herr Wendelin um Vergebung, baut ihm eine Zelle in der Nähe des benachbarten Klosters, dessen Mönche Wendelin zum Nachfolger ihres verstorbenen Abtes wählen: Es ist Tholey, wo er 617 stirbt. Von vielen Kerzen umgeben, bestatten ihn die Mönche, finden aber am nächsten Morgen den Leichnam neben dem Grabe. Sie nehmen dies als Zeichen, dass er andernorts begraben sein wolle, und spannen Ochsen, die noch nie gezogen haben, vor einen Wagen; diese fahren ihn, von selbst den Weg findend, auf den Berg, auf dem er betend so oft geweilt hat. Eine grosse Wallfahrtsstätte entsteht über der Stelle, aus der sich die Stadt St. Wendel/Saar entwickelt.»

Eine recht kritische Betrachtung über den heiligen Wendelin findet sich in der umfangreichen «Bibliotheca Sanctorum» (Citta’ Nuova Editrice, 1969). «Wir wissen nichts Genaues über sein Leben», wird dort gleich zu Beginn klargemacht. «Wendelin kam (...) ursprünglich aus Irland, und seine Familie war reich und von königlicher Abstammung. (...) Nach seinem Tod sollen auf seinem Grab gewisse Wunder stattgefunden haben, und 1417 soll in Saarbrücken - dank Gebeten an ihn - ein riesiger Brand gelöscht worden sein. (...) Seine iroschottische Herkunft kann nicht in Zweifel gezogen werden, aber die Quellen schweigen über sein königliches Geblüt - wahrscheinlich deshalb, weil dafür jegliche Grundlage fehlt. Nichts erlaubt ausserdem zu glauben, Wendelin sei Mönch in Tholey gewesen, wie eine irische Legende zu wissen glaubt, und sicherlich ist er auch nie Bischof gewesen. Es existiert zudem eine gewisse Verwirrung mit ähnlich heissenden Heiligen wie Wandelin, der ein Schüler des Heiligen Columban war, oder Walarich, Mönch und Pilger.»
Skeptisch begegnet die «Bibliotheca Sanctorum» den vier «Vitae Wendelini», die uns überliefert sind, zwei in deutscher, zwei in lateinischer Sprache: «Sie sind spätere Werke und ohne Zweifel jünger als 1417 [das Jahr des Brandwunders von Saarbrücken, Anm. d. Verf.]», heisst es da. Man wisse hingegen, dass im Jahr 1320 der Erzbischof von Treviri die Reliquien Wendelins besucht habe, und um 1360 habe Papst Innozenz VI. im Zuge eines Kirchenneubaus auf dem Grab des Heiligen dessen Leichnam untersuchen lassen, wobei festgestellt worden sei, dass dieser seine ursprünglichen Kleider getragen habe, die sich «in gutem Zustand» befunden hätten.

Im Gegensatz zur «Bibliotheca Sanctorum», die Wendelin nicht mit Wandelin verwechselt haben will, sagt das «Lexikon für Theologie und Kirche» (Verlag Herder, 1965), Wendelin werde oft auch als «Wandelin, Wendalin, Wendel, Vendel u. ä.» bezeichnet. Er habe zur Zeit des Trierer Bischofs Magnerich gelebt, also vor dem Jahr 570, und zwar «im Waldgebirge (Vosagus) als fränkischer Einsiedler oder Mönch (servus die militans)». Die bereits geschilderte Legende wird bestätigt; hinzugefügt wird die Tatsache, dass von den ungefähr 1500 heute noch bestehenden Wendelins-Patrozinien rund 500 Kapellen sind, 160 gar Wallfahrtsorte. Das zeigt einen anderen Aspekt des Heiligen auf: seine verschiedenen Patronatsfunktionen. Wendelin gilt als Patron der Hirten und Herden, der Bauern, der Landleute, als Nothelfer, als Schutzheiliger gegen Viehseuchen, ja sogar als Pestheiliger. Der Wendelinskult, darin ist sich die Literatur einig, findet seine erste Blütezeit zu Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jh. in Gegenden wie den Vogesen, dem Saarland oder in Franken. Eine Wiederbelebung erlebt er im 18. Jh., als Auswanderer ihn in nordamerikanische und osteuropäische Siedlungsgebiete tragen. Allgemein gilt er als «sehr populärer Heiliger», wie zum Beispiel die «Bibliotheca Sanctorum» meint. Und an welchem Tag schliesslich wird er gefeiert? Hier sind die Angaben wieder sehr unterschiedlich: Genannt werden der 7. Februar, der 24. April, der 5. Juli, der 8. September, hauptsächlich aber der 20., 21. und 22. Oktober. Etwa an diesen Tagen, so wird gesagt, scheint auch in der Cazner Wendelinskapelle die Herbstsonne durch das Apsisfenster auf den Altar.

Interessanterweise ist das Cazner Kirchlein heute das einzige in Graubünden, das als Hauptpatron den heiligen Wendelin aufweist. Seltsam, denn Wendelin ist gerade in ländlichen Gegenden seit jeher bekannt als Heiliger der Hirten und Bauern. Um 1500 soll er gar eine Art «Modeheiliger» dieser Berufsstände gewesen sein. Davon zeugen Bruderschaften, die an einigen Orten, so im luzernischen Greppen, bis heute überlebt haben. Eine solche Bruderschaft hat es offensichtlich auch in Cazis gegeben: Aus einer Gerichtsverhandlung aus dem Jahr 1471 ist eine Zeugenaussage überliefert, die berichtet, dass «fremde und herkommene Leute» im Domleschg eine «Bruderschaft zu St. Wendelin» gegründet hätten. Wer waren diese «fremden und herkommenen Leute»? Es gibt darüber eine Theorie, die recht wahrscheinlich tönt: Das mittelalterliche Kloster Cazis mit seinem ausgedehnten Grundbesitz beschäftigte zu jener Zeit viele Knechte und Mägde - und die kamen vermutlich zu einem nicht geringen Teil aus dem Unterland oder aus angrenzenden Ländern. Diese frühen «Saisonniers» könnten diejenigen gewesen sein, welche der Wendelinsverehrung Auftrieb verliehen und für den Unterhalt des Kapellchens sorgten. Falls es die «Bruderschaft zu St. Wendelin» tatsächlich gegeben hat, scheint sie nicht lange überlebt zu haben: Andere Hinweise auf ihre Existenz als die Zeugenaussage von 1471 sind nicht vorhanden.
 
 

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