Die neuentdeckten Wandmalereien in der Kapelle St. Wendelin in Cazis

VON LUDMILA SEIFERT-UHERKOVICH UND MARC ANTONI NAY, KANTONALE DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN

Die St.-Wendelins-Kapelle in Cazis wurde einer umfassenden Restaurierung unterzogen. Anlässlich der Bauuntersuchung von 1998 wurden im Innern der Kapelle unter einem Putz aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert Reste von Wandmalereien entdeckt und in der Folge durch den Restaurator Hans Weber freigelegt. Am Chorbogen fanden sich auf der ältesten Mörtelschicht, einem feinen Verputz auf "pietra rasa"-Mauerwerk, Reste einer wohl romanischen Quaderimitation. Romanischen Ursprungs sind auch die wenigen wellenförmigen Ornamente, die in der Laibung des kleinen Chorfensters zu erkennen sind. Spektakulärer und anteilsmässig dominierender sind jedoch jene Malereifragmente, die als Teile eines sich ursprünglich über den gesamten Chor, die Chorbogenwand und die beiden Längsseiten des Kapellenschiffes erstreckenden Freskenzyklus auszumachen sind. Sie liegen auf einem schiefergrauen, mit teilweise sehr grossen Kalkeinschüssen und kleinen Holzresten versetzten Grundputz, über dem ein sorgfältig abgeglätteter, feinsandiger Ausgleichsmörtel aufgetragen wurde. Er muss nach dem im ausgehenden 14. Jahrhundert belegten Kapellenbrand angebracht worden sein, da er als Unterlage den brandgeröteten Putz benutzt. Dieser wurde mit Pickelhieben als Haftgrund zugerichtet. Bei den neuentdeckten Malereien handelt es sich im wesentlichen um eine Kalkmalerei. Anders als beim fresco-buono wird dabei die zu bearbeitende Wandfläche nicht Stück für Stück, sondern in einem Zug verputzt. Vorzeichnungen und Grundfarben werden noch al-fresco ausgeführt. Bis Details und Binnenzeichnungen aufgetragen werden, ist die Putzschicht meist bereits trocken. Die Malpigmente müssen dann mit Kalk gebunden werden.

Ikonographie

An der Nordwand ist die Malerei bis auf wenige, nicht näher zu identifizierende Fragmente abgegangen. Im Chor ist bis auf ein bereits 1956 freigelegtes Bild der Heiligen Lucia im linken Gewände des romanischen Apsisfensters und einigen, ebenfalls 1956 entdeckten Gewandfragmenten an der rechten Hälfte des Fensterbogens vom ursprünglichen Freskenzyklus nichts mehr vorhanden. An der Südwand wurden vor allem bei den im ausgehenden 18. Jahrhundert erfolgten Fensterdurchbrüchen grosse Teile der Malereien zerstört. Dennoch sind hier sowie an der Chorbogenwand wesentliche Teile erhalten geblieben, was eine relativ detaillierte Rekonstruktion des ikonographischen Programms ermöglicht.

Das Jüngste Gericht an der Südwand

Die Darstellung an der Südwand ist anhand des vorhandenen Malbestandes unschwer als Jüngstes Gericht zu identifizieren. In der Mitte der oberen Wandhälfte thront Christus in einer Regenbogenmandorla auf einem Regenbogensegment vor dunkelblauem Hintergrund. Schultern und Beine sind von einem mit ockerfarbenem Stoff gefütteren roten Umhang bedeckt. Mit weitgehend entblösstem Oberkörper und symmetrisch erhobenen Armen weist Christus seine Wundmale vor. In der Zeit vom 11. bis zum 15. Jahrhundert ist in abendländischen Weltgerichtsbildern der "Wundmalchristus" für die Gestaltung des Weltenrichters der am häufigsten verwendete Typus. Ein bei der Darstellung des Weltenrichters ebenfalls oft verwendetes Motiv ist die Symbolisierung von dessen geistlicher und weltlicher Richtergewalt durch Lilie und Schwert, ausgehend vom Haupt Christi. Das Gesicht des Jesus hat sich zur Hälfte erhalten. Deutlich zu erkennen sind je zwei zum Mund hin konvergierende Strahlen. Die Ebenmässigkeit der Linienführung deutet darauf, dass es sich hier nicht um das Ende einer Lilie und die Spitze eines Schwertes handelt. Eher ist an eine Darstellung zu denken, wo zwei Schwerter aus dem Mund Christi hervorgehen. Eine solche Versinnbildlichung der Rechtsprechungsmacht findet sich zwar seltener, entspricht jedoch durchaus ikonographischer Konvention.

Zur Linken Christi ist eine zu ihm aufblickende bärtige Gestalt in Fürbitterstellung zu erkennen. Aufgrund der Bildtradition müsste es sich hierbei um Johannes den Täufer handeln. Zu ergänzen wäre dann zur Rechten Jesu die Gestalt der fürbittenden Maria. Seit dem 13. Jahrhundert war diese sogenannte Deesis-Komposition, die Christus zwischen Maria und Johannes dem Täufer als Fürbitter darstellt, Gemeingut der westlichen Weltgerichtsikonographie.

Im rechten Viertel der oberen Wandhälfte findet sich die Höllendarstellung. Drastisch werden jene grausamen Szenen geschildert, die sich im Rachen des die Hölle personifizierenden Monsters - bezeichnet durch ein Auge und die Konturen eines weit aufgesperrten Maules mit umlaufender Zahnreihe und Reisszähnen - abspielen: Auf einem im Zahnfleisch des Ungetüms befestigten Haken hängt über loderndem Feuer ein riesiger Kupferkessel, worin die Verdammten von einem feuerspeienden Teufelchen am Verlassen des Kessels gehindert, die Feuerqual erleiden. Unterhalb des Kessels wird eine zu Boden gestürzte junge Frau von einem undefinierbaren Ungetier an ihren entblössten Brüsten gezerrt. Als sollte beim Betrachter die Evokation von Schmerz noch verstärkt werden, ist jeder Zahn des Höllenmundes mit einem schwarzen Kleks als im Faulen begriffen gekennzeichnet. Hinten im Rachen steht Luzifer, der bekrönte Herrscher der Unterwelt, eine überdimensional proportionierte, ausgemergelte Satyrgestalt mit fellbedecktem Körper, fratzenhaftem Gesicht, Eselsohren und Bocksbeinen. An Achseln und Gesäss weist er hässliche feuerspeiende Gesichter mit Glubschaugen, langezogener Nase und wulstigen Lippen auf. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen wendet er sich dem gnadenlosen Treiben im und um den Kessel fast teilnahmslos zu. Abgeschlossen war die Szenerie offenbar von einer Figur auf der gegenüberliegenden Seite des Kessels. Diese Gestalt ist nicht näher identifizierbar, da von ihr nurmehr Bruchstücke vorhanden sind.

Der Erhaltungszustand der Höllendarstellung ist relativ schlecht, gerade dadurch jedoch interessant, vermag er doch so verschiedene Stadien im Malprozess aufzuzeigen. Während die Gestalt des Luzifer noch Teile der Detailausgestaltung aufweist, sind beim weiteren meist lediglich die Grundfarben, bei den Gesichtern der Verdammten auch nur die Vorzeichnungen in Rebschwarz erhalten. Offensichtlich wurden bei der Vorzeichnung im wesentlichen die Konturen der zentralen Bildelemente festgelegt, während Nebensächliches nachträglich dazukomponiert wurde.

Von der Darstellung im linken Viertel der oberen Wandhälfte hat sich nur ein Bruchstück in der östlichen Ecke unter der Balkendecke erhalten. Es zeigt das Fragment eines mit Biberschwanzziegeln gedeckten Gebäudes, an dessen Giebelseite sich ein geschlossenes Rundbogentor und ein rundes Vierpassfenster abzeichnen. Traufseitig finden sich hinter hohen, in der Höhe differierenden rundbogigen Fenstern die Büsten dreier Gestalten in grauen Gewändern, die in Richtung des Weltenrichters blicken. Es muss sich hier um einen Teil der Paradiesdarstellung handeln, die als Entsprechung zur Vision der Hölle im rechten Wandviertel aus Symmetriegründen an dieser Stelle zu erwarten ist. Die Gestalten in den Rundbogenfenstern sind wohl weiblichen Geschlechts, wobei allerdings nur die mittlere Figur eindeutig als Frau identifiziert werden kann. Sie sind offenkundig keine Heiligen, da sie keine Nimben aufweisen. Ihre Gesichtszüge sind individuell gestaltet, so als ob eine gewisse Porträtähnlichkeit angestrebt gewesen wäre. All diese Eigenheiten lassen an die Möglichkeit denken, dass hier in die Gestaltung des Paradieses Stifterfiguren einbezogen wurden. Die schlichte Bekleidung lässt an Klosterfrauen denken.

Die beschriebenen Hauptszenen des Jüngsten Gerichts - Deesis, Hölle, Paradies - weisen, wie anhand der vorhandenen Malsubstanz neben der Johannesfigur, oberhalb des Paradiesgebäudes sowie des Höllenschlundes zu erkennen ist, als Hintergrund eine weisse Fläche mit orangen und blauen sechsstrahligen linearen Sternen auf. Damit werden die Bilder der oberen Wandhälfte als zur Himmelszone zugehörig ausgewiesen. Mysteriös bleiben die schwarzen Zeichen neben dem Kopf des Johannes: zwei miteinander verbundene Kreise mit Zakken. Vielleicht handelt es sich dabei um Himmelserscheinungen, zu denken ist auch an Symbole, z. B. für das Leiden Christi.

Auf der unteren Wandhälfte hat sich in der Ostecke der Torso einer Heiligenfigur erhalten, die aufgrund ihres individuellen Attributs, dem Schindmesser, als Apostel Bartholomäus zu identifizieren ist. Sie gehört zu einem Apostelfries, der sich, wie anhand von auf gleicher Höhe an verschiedenen Stellen erhaltenen Malfragmenten deutlich wird, über die gesamte Breite der Südwand erstreckt hat: So finden sich rechts neben Bartholomäus Teile eines Kopfes - Nimbus, Ohr, schwarzes Haar -, das Stück eines Gewandes und ein Teil der Hand eines nicht näher bestimmbaren Apostels. Unterhalb des linken Fensters hat sich ein Gewandfragment erhalten, unter der Höllendarstellung ist noch der Ansatz eines Nimbus zu erkennen. Ein grösseres Fragment unterhalb der Deesis-Gruppe zeigt die oberen Partien einer Figur, die durch das Attribut der Keule als Apostel Judas Thaddäus identifiziert werden kann. Wie Bartholomäus trägt auch er einen roten Mantel über weissem Untergewand und blickt zum Weltenrichter auf. Die Apostel kommen in Weltgerichtsdarstellungen oft als Gerichtsbeisitzer sichelförmig neben der Christusgestalt gruppiert zur Darstellung, werden, besonders bei Wandmalereien, vielfach aber auch - wie hier - in einer Reihe nebeneinander aufgestellt und friesartig unter der Haupthandlung angebracht. Häufig sind die Figuren dabei durch Säulen voneinander getrennt und Statuen gleich in Nischen gestellt, ohne Bezug zueinander. In unserem Beispiel handelt es sich nicht um eine solche statische Anordnung von Gewandfiguren. Der Hintergrund scheint durchgehend rot gestaltet, auf eine Trennung der Heiligen mittels Säulen verzichtet worden zu sein. Dass es dem Künstler vielmehr angelegen war, eine - wenn auch stumme - Beziehung zwischen den einzelnen Gestalten herzustellen, darauf deutet folgendes Detail: Der in Dreiviertelansicht dargestellte Judas Thaddäus wendet sich dem Heiligen zu seiner Rechten zu - nach ikonographischer Konvention der Apostel Petrus - und legt ihm die Hand auf die Schulter. Oft wird die Apostelreihe in Betonung ihres Fries-Charakters durch eine Bordüre von der Haupthandlung im oberen Teil getrennt. Ein solches Band ist auch in unserem Fall auf einem Fragment in der Ostecke oberhalb des Bartholomäus und gegen die Westecke hin unter der Hölle erkennbar. Sie weist vier übereinanderliegende Reihen weisser Tupfen auf dunklem, blau-grauem Untergrund auf.

Wieweit sich die Wandmalerei in die Sockelzone fortsetzte, kann nicht mehr rekonstruiert werden.

Die Verkündigung an Maria an der Ostwand

Die Darstellung an der Chorbogenwand lässt sich anhand der vorhandenen Malfragmente als Verkündigung an Maria bestimmen. Von Gabriel, dem Engel der Verkündigung, haben sich im rechten Zwickel der nimbierte, leicht nach oben geneigte und im Dreiviertelprofil nach rechts gewendete Lockenkopf, der von einem rötlichen Mantel und einem grünlichen Untergewand umhüllte, schräg nach oben gerichtete rechte Arm mit der im Gestus des Segnens erhobenen Hand sowie die Flügel erhalten. Auf den gänzlich aus Pfauenfedern gebildeten grossen Engelsschwingen, die stark mit dem sie umgebenden roten Hintergrund kontrastieren, liegt der Akzent der Darstellung. Deutlich zu erkennen ist das Bemühen des Künstlers, die Einzelheiten des Flügelschmuckes hervorzuheben und damit dessen Pracht zu unterstreichen. Die Schwingen liegen nicht eng am Körper des Engels an, sie sind vielmehr weit aufgespannt, das Gefieder ist aufgeplustert. Auf diese Weise gelangen, wie bei einem radschlagenden Pfau, die "Augen" zu besonderer Geltung. Diese setzen sich aus einem runden rebschwarzen Kern, einer lapislazuliblauen und einer weissen Sichel zusammen. Obwohl offensichtlich Wert auf eine gewisse Genauigkeit in der Wiedergabe der Federn gelegt wurde, verliert sich die Darstellung nicht in ziselierender Nachahmung von naturalistischen Details. Gemalt sind die Schwingen vielmehr in einer lockeren Manier, was ihnen eine fast expressive Qualität verleiht. Die Darstellung des Gabriels, zuweilen auch anderer Engel mit Pfauenfedern war sowohl in Italien als auch nördlich der Alpen vom 14. bis ins 15. Jahrhundert beliebt. Den Pfauenfedern kommt dabei keine symbolische Bedeutung zu, sie entsprechen vielmehr der zeitgenössischen Vorliebe für das Bunte und Prächtige.

Vom Verkündigungsengel geht ein Schriftband aus, auf dem - allerdings nur fragmentarisch erhalten - in gotischen Minuskeln die im Lukas-Evangelium überlieferte Grussformel an Maria zu lesen ist: "[Ave, gratia plen]a dom[inus tecu]m: benedicta tu in mulierib[us]" (Lk 1, 28), zu deutsch: Gegrüsst seist Du, voller Gnaden, der Herr ist mit dir, du bist gesegnet unter den Frauen. Der Vergleich mit anderen Darstellungen des Verkündigungsengels lässt vermuten, dass Gabriel das Schriftband in seiner - heute nicht mehr erhaltenen - linken Hand als Heroldsattribut hält.

Das Spruchband läuft auf Maria zu, die - kompositorisch das Gegengewicht zur Engelsdarstellung im rechten Zwickel - im linken Zwickel dargestellt ist. Den ikonographischen Forderungen entsprechend, trägt sie ein rot-blaues Gewand. Ihr Kopf wird von einem Nimbus bekrönt, das Gesicht umrahmt von ockerfarbenen Haaren, die im Rücken zu einem Zopf zusammengebunden sind. Die Hände zum Gebet gefaltet, wendet sie ihren Körper im Dreiviertelprofil Richtung Gabriel und nimmt gefasst seine Botschaft entgegen. Vor ihr finden sich die in Verkündigungsdarstellungen seit dem Hochmittelalter traditionellen Marienattribute: Die in einer Vase stehende Lilie zur Kennzeichnung ihrer Jungfräulichkeit, das Betpult - hier ausgebildet als schlankes, volutenverziertes Stehtischchen - als Symbol ihrer Frömmigkeit, das Buch zur Andeutung ihrer Weisheit und Schriftkenntnis. Die Seiten des auf dem Stehpult aufgeschlagenen Buches sind auffällig dem Betrachter zugekehrt. Zuweilen findet sich hier Marias Entgegnung auf die Worte des Engels, oft auch eine Stelle aus dem Alten Testament. Dass in unserem Beispiel lesbare Schriftzeichen durch blosse Wellenlinien ersetzt worden sind, zeigt, dass der Betrachterstandpunkt beim Entwurf berücksichtigt wurde: Ein allfälliger Text wäre vom Kirchengänger wegen der beträchtlichen Distanz zwischen Darstellung und Betrachter nicht entzifferbar gewesen. Das ostentative Präsentieren des Buches ist allgemein zu deuten, als Hinweis auf die Autorität der Heiligen Schrift. Vase und Tisch haben neben ihrer attributiven Bedeutung auch die lapidare Funktion von realen Ausstattungsstücken. Sie scheinen den Ort der Handlung als Gemach Marias zu definieren. Im Hintergrund ist allerdings ein kirchenartiges Gebäude zu erkennen, gekennzeichnet durch spitze, masswerkverzierte Giebel, rundbogige Maueröffnungen und ziegelbedeckte Dächer. Die Art der Architekturdarstellung lässt vermuten, dass hier der Blick auf die Fassaden des Gebäudes freigegeben wird, Maria die Engelsbotschaft also im Freien empfängt. Bleibt die Raumsituation letztlich auch unklar, so ist doch offenkundig und bemerkenswert, dass hier angestrengt der Versuch unternommen wurde, illusionistische Perspektivität zu gewinnen und - wenn dies auch nicht ganz gelungen scheint - eine konkrete Räumlichkeit zu definieren.

Links über dem Chorbogenscheitel schwebt Christus in Gestalt des als Kleinkind schon voll ausgebildeten Jesusknaben auf Maria herab. Das Motiv des "Bambino" tritt in Verkündigungsdarstellungen im Norden wie im Süden gehäuft seit Mitte des 14. Jahrhunderts auf und wird vereinzelt bis ins 16. Jahrhundert verwendet. Das Christuskind ersetzt in diesem Zusammenhang meist die sonst übliche, den Heiligen Geist symbolisierende Taube. Es wird vielfach - wie auch in unserem Beispiel - mit geschultertem kleinen Kreuz gezeigt, das als Symbol für sein Opferdasein steht. Oft gleitet es bäuchlings auf einem schlauchartigen Gebilde oder auf dem Lichtstrahl Gottes zu seiner Mutter herab, womit angedeutet wird, dass es im Begriff ist, seinen irdischen Leib aufzunehmen und sein Erlösungswerk zu beginnen. Als göttliche Lichtstrahlen sind in unserer Darstellung die sich vom roten Hintergrund abhebenden wellenförmigen Weisshöhungen zwischen Maria und dem Christuskind zu deuten.

Im Unterschied zur Südwand, wo kein oberer Abschluss feststellbar ist, wird die Verkündigungsszene an der Chorbogenwand durch ein Band gerahmt. Die Darstellungen überlappen an einigen Orten die Rahmung, wobei diese "Grenzüberschreitungen" durchaus vom Maler gewollt sind. Der Rahmen selbst besteht oben und auf den Seiten aus einem umlaufenden Band in hellem Ockerton, in dem ein blaugrauer Fries eingebettet ist. Dieser wiederum trägt dunklere Vierpassmotive, die wohl mittels Schablonen appliziert und danach wo nötig von Hand nachgebessert worden sind. Seltsamerweise lediglich im linken Zwickel werden die Rauten, welche die Vierpässe aufnehmen, mit weissen Linien umrissen. Die Rahmenfunktion des Frieses wird dadurch betont, dass am ockerfarbenen Begleitband in den Ecken ein diagonaler Strich den Eindruck eines Rahmens vermittelt. Der Chorbogenfries weist einen dunkleren Ockerton auf und ist breiter. Im Fries zeigen sich Rottöne, die jedoch nicht mit Gewissheit Formen zugeordnet werden können. Zu denken ist an ein Masswerk oder ein Rankenfries, aber auch an eine Übernahme der darunterliegenden romanischen Quadermalerei.

Die Partie mit der Darstellung des Engels ist die am besten erhaltene Stelle des Freskenzyklus. Hier lässt sich erahnen, um wieviel plastischer und detailreicher die Malereien ursprünglich gewesen sind. Davon zeugen nicht nur die kunstvoll gebildeten Pfauenfedern, sondern auch die Binnenzeichnung des weissen Nimbus mit seiner Rundbogenmusterung, vor allem aber die subtil eingebrachten Weisshöhungen, wie sie in den Locken und dem Inkarnat der Hände zu beobachten sind. Solche Feinheiten, die zeigen, dass die Werkstatt über ein differenziertes Repertoire künstlerischer Ausdrucksformen verfügte, sind auch noch in der Darstellung der Maria zu erkennen. Hier sind bei den ockerfarbenen Haaren feine braune Konturen und Weisshöhungen sichtbar, der Nimbus weist dieselbe aufwendige Binnenzeichnung wie derjenige des Engels auf.

Die Werkstatt

Die neuentdeckten Wandmalereien in der St.-Wendelins-Kapelle in Cazis können in Bezug gebracht werden zu Malereien in der Kirche St. Peter in Mistail, in der kath. Pfarrkirche St. Jakob in Rodels und in der alten Pfarrkirche St. Lorenz in Paspels. Diese werden alle in die Zeit um 1400 datiert und von Dosch und Raimann einer Werkstatt mit dem Notnamen "Mistailer Meister" zugeschrieben.

Für eine Identität der Werkstatt der Wendelinskapelle mit derjenigen des "Mistailer Meisters" sprechen eine Fülle von Parallelen: Einmal finden wir den mittels Schablonen aufgetragenen Vierpassfries, der in Cazis die Verkündigungsszene an der Chorbogenwand säumt, sowohl in Paspels als auch in Rodels; dort an der Südwand des Schiffes, an der Chorbogenwand und als vertikale Unterteilung des Apostelfrieses am Chorabschluss. Ein wenig aufwendiger gestaltet als in Cazis sind die Vierpassfriese in Mistail. Sie sind aber ebenfalls als Rahmungen gedacht und weisen dieselben, dem Muster eingeschriebenen, sich überkreuzenden Zickzackbänder auf wie an der nördlichen Chorbogenwand von Cazis.

Weitere Parallelen zwischen den Malereien sind in der Figurendarstellung zu erkennen: Das Gewand der Figur Christi in Cazis zeigt denselben schlängelnden Faltenwurf des "weichen Stils", wie er an den Figuren von Mistail und Rodels zu beobachten ist. Auch die auffallende Lidbegrenzungslinie unter der Augenbraue und die im Verhältnis zur Oberlippe auffallend kleine Unterlippe sind Details, die wir an allen Malereien antreffen.

Die sacht auslaufenden Weisshöhungen an der Hand des Engels entsprechen denjenigen im Inkarnat der Christophorus-Darstellung in Mistail und der Figuren an der Chorostwand in Rodels. Die Köpfe der Muttergottes und der Könige in Mistail besitzen Weisshöhungen, die um einiges schematischer und weniger differenzierter wirken, so dass man annehmen muss, dass diese von einem weniger versierten Werkstattsmitglied angebracht wurden.

Im Bereich der sehr zurückhaltend angewandten Architekturdarstellung bilden die durchwegs rundbogigen Tore und Fenster eine Gemeinsamkeit zwischen den Wandbildern von Mistail und Cazis, ebenfalls die kleinen Oculi mit Vierpassmasswerk, die in Mistail auch die rahmenden Friese bereichern. Grosse Ähnlichkeit weisen auch die Beschriftungen auf. In Rodels finden sich zudem die sechsstrahligen Sterne der Südwand in Cazis, allerdings nur in Rot.

Neben diesen Elementen wiederholen sich auch einzelne Detailformen: Einmal findet der gebogene Fuss des Betpults der Verkündigungsmaria in Cazis seine Entsprechung in den Buchhaltern der Evangelistendarstellungen in der Apsiskalotte von Mistail. Des weiteren zeigen sich in Rodels an der Südwand bei der Höllendarstellung Ansätze derselben umlaufenden Zahnreihe wie in Cazis. Dabei ist auch in Rodels jeder Zahn an seiner Krone mit einem schwarzen Klecks versehen, ein Detail, das wir bei der oberen Zahnreihe in Cazis beobachten konnten.

All diese Bezüge legen den Schluss nahe, dass die Malereien der Wendelinskapelle von der Werkstatt des Mistailer Meisters geschaffen wurden. Der Engel dürfte von derselben Hand geschaffen worden sein wie der Christophorus in Mistail und die Figuren an der Südwand in Rodels. Weiterführende Studien zu diesem Wandmalereikorpus vermag dieser kurze Aufsatz nicht zu leisten. Insbesondere die Fragen nach der Chronologie der einzelnen Werke, nach Bezügen zwischen den Auftraggebern und die Einordnung in den Zusammenhang des gleichzeitigen alpinen Kunstschaffens harren noch der Klärung und Auflösung.
 
 

VERWENDUNG DES TEXTES MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG DER DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN.

URSPRÜNGLICH VERÖFFENTLICHT IN: JAHRESBERICHT 1998 DES ARCHÄOLOGISCHEN DIENSTES GRAUBÜNDEN UND DER DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN, HALDENSTEIN/CHUR, 1999, S. 97-106. ERHÄLTLICH GEGEN EINE SCHUTZGEBÜHR VON 15 SFR. BEI: DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN, LOESTRASSE 14, 7000 CHUR.


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