Die Baugeschichte der Kapelle St. Wendelin in Cazis

VON AUGUSTIN CARIGIET, BAUFORSCHER, KANTONALE DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN

Die Kapelle St. Wendelin in Cazis liegt westlich oberhalb der Klosteranlage. Die Bauform der halbrunden Apsis, welche aussen mit Lisenen und dreiteiligen Rundbogenfriesen gegliedert ist, lässt auf einen romanischen Bau schliessen. Urkundlich wird die Kapelle erstmals 1493 erwähnt. Im Spätmittelalter diente sie offenbar einer "Bruderschaft zu St. Wendelin", die sich aus "fremden und herkommenen Leuten" gebildet hatte.

Zur älteren Baugeschichte des Klosters Cazis ist wenig bekannt. Im Gegensatz zu den Klöstern Müstair, Disentis und Mistail liegen hier keine archäologischen Untersuchungen vor. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Kloster Cazis bereits im 8. Jahrhundert bestand. Die ältesten urkundlichen Mitteilungen über die Existenz des Klosters sind in den St. Galler Verbrüderungsbüchern vom Ende des 8. Jahrhunderts und in einer königlichen Urkunde von 940 zu finden.

Die Kapelle war Ende des 19. Jahrhunderts renoviert worden. Die letzte Aussenrenovation fand 1956 statt und wurde durch Architekt Walter Sulser ausgeführt. Im Zusammenhang mit der dringend notwendig gewordenen Restaurierung der Kapelle konnte diese im Berichtsjahr 1998 vom Archäologischen Dienst und der Kantonalen Denkmalpflege Graubünden baugeschichtlich untersucht werden. Die Untersuchungen ergaben, dass die heutige Bauform der Kapelle in verschiedenen Bauphasen entstand. An der Südaussenseite der Kapelle konnte zudem ein älterer Bau nachgewiesen werden.

Ein Vorgängerbau an der Südaussenseite der Kapelle

Die ältesten Befunde lagen nicht im Bereich der heutigen Kapelle, sondern an deren Südaussenseite. Dort konnte im Zusammenhang mit der Sanierung des 1956 gebauten Entfeuchtungsgrabens unter der betonierten Grabensohle die Nordmauer eines benachbarten Baus aufgedeckt werden. Die Aussenflucht dieser Nordmauer lag auf einer Länge von über zehn Metern frei. Sowohl gegen Westen als auch gegen Osten setzte sich die Mauer über unsere Grabungsgrenze hinaus fort. Es muss sich bei diesem abgegangenen Bau also um ein stattliches Gebäude gehandelt haben.

Das Innere des an der Südaussenseite der Kapelle angeschnittenen Gebäudes war mit Abbruchschutt aufgefüllt. Dieser enthielt Mörtelgriess und praktisch keine Steine, so als ob beim Abbruch des Gebäudes das Steinmaterial für einen gleichzeitig erstellten Neubau wiederverwendet worden wäre. Im Abbruchschutt fanden sich einzelne Fragmente bemalten Verputzes. Der aufgedeckte Bau ist älter als die ältesten Teile der Kapelle. Er steht am Anfang einer recht komplexen Bauabfolge und dürfte Teil der ältesten Baugeschichte des Klosters sein.

Die Baugeschichte der Kapelle

Die Kapelle wird von Erwin Poeschel ins 12. Jahrhundert datiert. Diese Datierung erfolgte auf Grund der Bauform der halbrunden gewölbten Apsis, welche aussen eine Gliederung mit Lisenen und Blendarkaden aufweist. Dabei wurde angenommen, dass es sich bei der Kapelle um einen Neubau aus dieser Zeit handelt.

Bereits ein oberflächlicher Blick auf die bis heute unverputzt gebliebene Westfassade liess vermuten, dass die Kapelle nicht in einem Zug errichtet worden war. Verschiedenartiges Mauerwerk, Reste von Fugenstrichverputz, diverse Baufugen und ein zugemauerter Eingang mit Rundbogen deuteten darauf hin, dass hier bei gründlicher Untersuchung genauere Aufschlüsse zur Baugeschichte der Kapelle zu finden sein würden. Tatsächlich konnten anhand einer steingerechten Aufnahme und der anschliessenden Analyse an der Westfassade allein mindestens fünf verschiedene Bauphasen unterschieden werden. Diese galt es in der Folge während der Restaurierungsarbeiten am gesamten Bau zu verfolgen.

Die Untersuchungen zeigten, dass Nord-, West- und Südwand des Kapellenschiffes zu einer Vorgängerkirche gehören, deren Ostabschluss oder Chor nachträglich durch die heute noch vorhandene Apsis ersetzt wurde. Die älteren Schiffsmauern waren innen unverputzt, die Mauerwerksfugen in "pietra-rasa"-Technik ausgestrichen. In der Südwestecke des Vorgängerschiffes liessen die alten Schiffsmauern einen Durchgang offen. Im Fundamentbereich war die Südwestecke noch im Verband gefügt, etwa ab Bodenhöhe enden die West- und Südwand mit stumpfen Enden, welche zum Teil mit Tuffquadern als Eckverband ausgeführt waren. Zwischen diesen vertikalen Leibungen blieb somit in der Südwestecke ein "über Eck" angelegter Durchgang frei. Dieser merkwürdige Durchgang bestand mit dem Schiff der Vorgängerkirche und wurde erst nach dem Neubau der heutigen Apsis zugemauert. Zur typologischen Einordnung dieser Vorgängerkirche, von welcher das Schiff im heutigen Kirchenbau erhalten blieb, fehlt die Bauform der Ostwand.

Beim heutigen halbrunden Chor handelt es sich um einen romanischen Neubau. Die Chorschultern, die halbrunde Apsis und die östliche Giebelwand über dem abgetreppten Chorbogen wurden in einem Zug gebaut. Das Mauerwerk der Apsis ist sauber lagenhaft gefügt. Die Gliederung der Apsis mit Lisenen, Blendarkaden und Rollfries und das einzige, gegen Südosten ausgerichtete Chorfenster bestehen aus Tuffsteinen. Diese Elemente erlauben eine Datierung ins 12. Jahrhundert. So konnte jüngst die Kirchenruine St. Peter in Sent, deren Turm eine vergleichbare Gliederung aufweist, ins Jahr 1173 datiert werden.

In einer weiteren Bauphase wurde der "über Eck" angelegte Durchgang in der Südwestecke des Schiffes zugemauert und im Südteil dieser neuen Gebäudeecke der heutige Eingang mit Rundbogen gebaut. Dieser Neubauteil unterscheidet sich vom Mauercharakter her deutlich von der Apsis. Er weist innen und aussen einen "pietra-rasa"-Verputz mit Fugenstrich auf. Ein mit dem Eingang eingebautes Sturzholz wurde jüngst dendrochronologisch untersucht. Das Fälldatum ist höchstwahrscheinlich in die Jahre 1275-76 anzusetzen. Mit dem Neubau der Südwestecke wurde schliesslich die heutige Bauform der Kapelle vollendet. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit einem Giebeldach gedeckt. Die Wendelins-Kapelle entstand somit in drei verschiedenen Phasen. Die Schiffswände gehören zu einer Vorgängerkirche, deren Ostwand beim Bau der heutigen Apsis im 12. Jahrhundert niedergelegt wurde. Der offene Durchgang in der Südwestecke des Vorgängerschiffes blieb nach dem Neubau der Apsis weiterhin bestehen und wurde erst um 1275 zugemauert. Anlässlich dieses Umbaus entstand die dortige Rundbogentüre.

Die Verlegung des Eingangs an die Westfassade

Wohl im 14. Jahrhundert wurde der Eingang an die Westfassade verlegt. Dabei entstanden das heute noch sichtbare Rundbogentor und das darüber liegende Fenster. Gleichzeitig muss die Nordwestecke der Kapelle wiederhergestellt worden sein. Auch die westliche Giebelwand entstand mit diesem Umbau. Dort bestand vorher vermutlich lediglich eine Bretterschalung. Im Innern der Kapelle wurde in der gleichen Umbauphase die Chorstufe erneuert.

Nach diesem Umbau bestanden im Innern der Kapelle immer noch die alten Wandoberflächen. Die Schiffswände der Vorgängerkirche waren noch grösstenteils unverputzt, lediglich die Mauerwerksfugen waren in "pietra-rasa"-Technik ausgestrichen. An der inneren Südwestecke war der "pietra-rasa"-Verputz mit Fugenstrich noch sichtbar. Lediglich der Chor dürfte zu diesem Zeitpunkt mit einem deckenden Verputz versehen gewesen sein. Der abgetreppte Chorbogen wies eine aufgemalte Quaderimitation auf. Die verschiedenen Bauphasen der Kapelle mussten damals wegen der unterschiedlichen Wandoberflächen im Innern noch ablesbar gewesen sein.

Der Brand und die Wiederherstellung

Die älteren Putzschichten innerhalb der Kapelle zeigen eine deutliche Brandrötung. Der Zeitpunkt des Brandes in der Kapelle lässt sich folgendermassen eingrenzen: Auf den brandgeröteten Wandoberflächen liegt eine Putzschicht, die in zwei Arbeitsgängen aufgetragen wurde. In einem ersten Arbeitsgang trug man eine relativ starke Mörtelschicht zur Egalisierung der bis anhin unebenen Wandoberflächen auf. Nach dem Austrocknen wurde ein feinerer, abgeglätteter Deckputz angebracht. Auf dieser neuen Verputzschicht liegen Malereien, die stilistisch in die Zeit um 1400 datiert werden können. Von Bruschius wird berichtet, dass das Kloster Cazis 1396 unter der Äbtissin Guta von Schauenstein sowie wenig später unter deren Nachfolgerin Verena Feystlin (1386-1401) von Feuersbrünsten betroffen war. Es ist anzunehmen, dass bei einem dieser Brände auch die Kapelle in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Dies würde deren Neuausmalung um 1400 erklären.

Die jüngeren Umbauten

Am 14. Juli 1768 wurde das Kloster Cazis ein weiteres Mal von einem zerstörerischen Brand heimgesucht. Turm und Schiff der Pfarrkirche und ein grosser Teil der Klostergebäude wurden ein Raub der Flammen. Es ist belegt, dass den Klosterfrauen nach diesem Klosterbrand vorübergehend die nahe gelegene Wendelinskapelle als Gotteshaus diente. Eine Vorkirche aus Brettern und eine Empore sollen damals erstellt worden sein. Obwohl es dort "heiss und eng" war, wie sich eine der damaligen Nonnen beklagte, war man froh, für den täglichen Gottesdienst wenigstens die Kapelle zur Verfügung zu haben.

In dieser Zeit dürfte der Eingang in der Mitte der halbrunden Apsis ausgebrochen und der bestehende Eingang in der Westfassade zugemauert worden sein. Die Lage des neuen Eingangs im Zentrum des Chores dürfte in Zusammenhang mit der vorübergehenden Nutzung der Kapelle durch die Klosterfrauen stehen.

Auch die heutigen Fenster in der Südwand des Schiffes stammen aus dieser Phase. Diese durchschlagen wesentliche Teile der Malereien an der Südinnenwand. Das bestehende Pultdach dürfte ebenfalls in dieser barocken Umbauphase errichtet worden sein.

Johann Rudolf Rahn zeichnete auf seinen zahlreichen Wanderungen durch Graubünden die Kapelle erstmals am 18. September 1870 und ein zweites Mal am 1. Oktober 1891. Die ältere Darstellung zeigt noch den Eingang in der Mitte der halbrunden Apsis. Auf der Skizze von 1891 ist er bereits zugemauert. An seiner Stelle ist der alte Eingang im Westteil der Südfassade wieder geöffnet worden.
 

VERWENDUNG DES TEXTES MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG DER DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN.

URSPRÜNGLICH VERÖFFENTLICHT IN: JAHRESBERICHT 1998 DES ARCHÄOLOGISCHEN DIENSTES GRAUBÜNDEN UND DER DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN, HALDENSTEIN/CHUR, 1999, S. 90-96. ERHÄLTLICH GEGEN EINE SCHUTZGEBÜHR VON 15 SFR. BEI: DENKMALPFLEGE GRAUBÜNDEN, LOESTRASSE 14, 7000 CHUR.


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